EuGH: Verbot missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich unmittelbar in Mitgliedstaaten anwendbar

Das Verbot missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich ist unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in den Mitgliedstaaten anwendbar. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 22.11.2017 klargestellt. Es handele sich um einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der keine nationale Umsetzungsmaßnahme erfordert, heißt es in der Begründung des Gerichts (Az.: C-251/16).

Mietverträge mit Shamrock Estates abgeschlossen

Edward Cussens, John Jennings und Vincent Kingston waren im zugrundeliegenden Fall Miteigentümer eines Projektstandorts in Irland, auf dem sie 15 Ferienwohnungen errichteten, die verkauft werden sollten. Vor dem Verkauf tätigten sie 2002 mehrere Geschäfte mit einer mit ihnen verbundenen Gesellschaft, der Shamrock Estates. Am 08.03.2002 schlossen sie mit dieser Gesellschaft zwei Mietverträge, und zwar einen Mietvertrag, mit dem sie ihr diese Immobilien für einen Zeitraum von 20 Jahren und einem Monat ab diesem Zeitpunkt vermieteten ("langfristiger Mietvertrag"), und einen Mietvertrag, mit dem Shamrock Estates diese Immobilien an die Miteigentümer für zwei Jahre zurückvermietete.

Verkauf der Immobilien löste keine Mehrwertsteuer mehr aus

Am 03.04.2002 wurden die beiden Mietverträge durch gegenseitigen Verzicht der jeweiligen Mieter beendet, sodass die Miteigentümer das volle Eigentum an den Immobilien wiedererlangten. Im Mai 2002 verkauften die Miteigentümer alle Immobilien an Dritte, die daran das volle Eigentum erwarben. Gemäß den irischen Mehrwertsteuervorschriften fiel auf diese Verkäufe keine Mehrwertsteuer an, da die Immobilien zuvor Gegenstand einer der Mehrwertsteuer unterliegenden ersten Lieferung im Rahmen des langfristigen Mietvertrags gewesen waren. Nur dieser unterlag der Mehrwertsteuer.

Steuerverwaltung: Mehrwertsteuer durch künstliche Konstruktion vermieden

Mit Steuerbescheiden vom 27.08.2004 verlangte die irische Steuerverwaltung von den Miteigentümern die Zahlung zusätzlicher Mehrwertsteuer für die im Mai 2002 getätigten Immobilienverkäufe. Sie war nämlich der Auffassung, dass die langfristigen Mietverträge eine erste Lieferung darstellten, die künstlich konstruiert worden sei, um die Mehrwertsteuerpflichtigkeit der späteren Verkäufe zu verhindern. Diese Lieferung sei daher für die Berechnung der Mehrwertsteuer nicht zu berücksichtigen.

High Court sieht missbräuchliche Praxis im Sinne der EuGH-Rechtsprechung

Die Miteigentümer erhoben gegen diese Entscheidung Klage. Der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) entschied, dass die Mietverträge, da sie keinen wirtschaftlichen Gehalt hätten, eine missbräuchliche Praxis im Sinne der sich aus dem EuGH-Urteil in der Rechtssache Halifax (DStR 2006, 420) ergebenden Rechtsprechung darstellten. Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er sich aus dieser Rechtsprechung ergebe, verlange, missbräuchliche Maßnahmen entsprechend der Realität umzuqualifizieren, auch wenn es keine nationalen Rechtsvorschriften gebe, die diesen Grundsatz umsetzten.

Supreme Court befragt EuGH zu unmittelbarer Anwendbarkeit des Grundsatzes

Der mit einem Rechtsmittel befasste Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) befragte den EuGH, ob dieser Grundsatz unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbar angewandt werden kann, um Immobilienverkäufen die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen. Außerdem zweifelte der Supreme Court daran, ob eine solche Anwendung des Grundsatzes mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar ist, da die fraglichen Geschäfte vor dem Erlass des Urteils Halifax getätigt wurden.

Grundsatz durch ständige Rechtsprechung begründet

Der EuGH stellt zunächst fest, dass der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er im Urteil Halifax auf die Mehrwertsteuerrichtlinie (RL 77/388/EWG) angewandt wurde, keine durch eine Richtlinie aufgestellte Regel darstellt. Vielmehr habe dieser Grundsatz seine Grundlage in einer ständigen Rechtsprechung, wonach zum einen eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist und zum anderen die Anwendung des Unionsrechts nicht so weit gehen kann, dass die missbräuchlichen Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden.

EuGH bejaht allgemeinen Charakter des Grundsatzes

Diese ständige Rechtsprechung sei in verschiedenen Bereichen des Unionsrechts ergangen, so der EuGH. Zudem erfolge die Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken auf die durch das Unionsrecht vorgesehenen Rechte und Vorteile unabhängig von der Frage, ob diese Rechte und Vorteile ihre Grundlage in den Verträgen, in einer Verordnung oder in einer Richtlinie haben. Nach Ansicht des Gerichtshofs weist der fragliche Grundsatz somit den allgemeinen Charakter auf, der den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts naturgemäß innewohnt. Folglich könne er einem Steuerpflichtigen entgegengehalten werden, um ihm unter anderem das Recht auf Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen, auch wenn das nationale Recht keine Bestimmungen enthält, die eine solche Versagung vorsehen.

Auch vor Erlass des Halifax-Urteils getätigte Geschäfte betroffen

Eine solche Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken sei mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar, auch wenn diese Anwendung Geschäfte betrifft, die vor dem Erlass des Urteils Halifax getätigt wurden. Der EuGH stellte hierzu fest, dass durch die Auslegung des Unionsrechts, die er vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite dieses Recht seit seinem Inkrafttreten zu verstehen ist oder gewesen wäre. Daraus folge, dass – abgesehen von außergewöhnlichen Umständen – der Richter das Unionsrecht in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden muss. Außerdem habe der Gerichtshof im Urteil Halifax die zeitliche Wirkung seiner Auslegung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich nicht begrenzt, und eine solche Begrenzung könne nur in dem Urteil selbst erfolgen, mit dem über die erbetene Auslegung entschieden wird.

EuGH, Urteil vom 22.11.2017 - C-251/16

Redaktion beck-aktuell, 22. November 2017.