EuGH: Polnische Gerichte dürfen Fremdwährungsdarlehen mit missbräuchlichen Klauseln über Wechselkursdifferenz für unwirksam erklären

In Polen geschlossene Verträge über Fremdwährungsdarlehen, die missbräuchlichen Klauseln über die Wechselkursdifferenz enthalten, können komplett für unwirksam erklärt werden. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 03.10.2019 entschieden (Az.: C-260/18). 

Fremdwährungsdarlehen in Polen aufgenommen

Im Jahr 2008 schlossen die Ausgangskläger mit der Raiffeisenbank einen Hypothekendarlehensvertrag, der auf polnische Zloty (PLN) lautete, aber an den Schweizer Franken (CHF) gebunden war. Während also die Kreditmittel in PLN ausgezahlt wurden, waren der Sollsaldo und die monatlichen Rückzahlungsraten in CHF angegeben, wobei Letztere jedoch vom Bankkonto der Kreditnehmer in PLN abgebucht werden sollten. Bei der Auszahlung des Darlehens wurde der in CHF angegebene Sollsaldo auf der Grundlage des bei der Raiffeisenbank am Tag der Auszahlung geltenden Ankaufskurses PLN-CHF ermittelt, während die monatlichen Darlehensraten je nach dem bei dieser Bank zum jeweiligen Fälligkeitszeitpunkt geltenden PLN-CHF-Verkaufskurs berechnet wurden. Da die Kreditnehmer einen an CHF gekoppelten Darlehensvertrag geschlossen hatten, kamen sie in den Genuss eines auf dem Zinssatz dieser Währung basierenden Zinssatzes, der niedriger war als der für PLN geltende Zinssatz, waren aber dem Wechselrisiko ausgesetzt, das sich aus der Fluktuation des Wechselkurses PLN-CHF ergab.

Kreditnehmer halten Darlehensvertrag für nichtig 

Die Kreditnehmer erhoben beim Bezirksgericht Warschau Klage, um die Nichtigkeit des Darlehensvertrags feststellen zu lassen, weil die Vertragsklauseln über die Anwendung einer Wechselkursdifferenz, die darin bestehe, dass für die Auszahlung der Mittel auf den Ankaufskurs und für die Rückzahlungen auf den Verkaufskurs zurückgegriffen werde, rechtswidrige missbräuchliche Klauseln darstellten, die für sie nach der Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (RL 93/13/EWG) unverbindlich seien und deren Streichung zum Wegfall des Vertrags führe. Nach Ansicht der Kreditnehmer ist es nämlich nach Wegfall der streitigen Klauseln unmöglich, einen korrekten Wechselkurs zu bestimmen, sodass der Vertrag nicht bestehen bleiben könne. Darüber hinaus tragen sie vor, dass das Darlehen, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass der Darlehensvertrag ohne diese Klauseln als auf PLN lautender Darlehensvertrag, der nicht mehr an CHF gekoppelt wäre, erfüllt werden könne, weiterhin den an CHF gebundenen günstigeren Zinsen unterliegen müsse.

Polnisches Vorlagegericht: Darf gesamter Vertrag für unwirksam erklärt werden?

Das polnische Gericht fragte den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, ob die missbräuchlichen Klauseln nach ihrem Wegfall durch allgemeine Bestimmungen des polnischen Rechts ersetzt werden dürfen, die vorsähen, dass die in einem Vertrag zum Ausdruck gebrachten Wirkungen auch nach den Grundsätzen der Billigkeit oder der Verkehrssitte bestimmt werden können. Dabei nahm es Bezug auf das Urteil Kásler (EuZW 2014, 506), in dem der EuGH ausgeführt habe, dass das nationale Gericht unter bestimmten Voraussetzungen eine missbräuchliche Klausel durch eine Bestimmung des innerstaatlichen Rechts ersetzen darf, um das Gleichgewicht zwischen den Vertragsparteien wiederherzustellen und die Wirksamkeit des Vertrags aufrechtzuerhalten. Das polnische Gericht wollte ebenfalls wissen, ob es ihm die Richtlinie gestatte, den Vertrag für unwirksam zu erklären, wenn die Aufrechterhaltung des Vertrags ohne die missbräuchlichen Klauseln zur Folge hätte, dass sich sein Hauptgegenstand dergestalt änderte, dass die Zinsen, obwohl das betreffende Darlehen nicht mehr an CHF gekoppelt wäre, weiterhin auf der Basis des für diese Fremdwährung geltenden Zinssatzes berechnet würden.

Ersetzungsbefugnis beschränkt 

Der EuGH stellt zunächst fest, dass sich die im Urteil Kásler vorgesehene Befugnis zur Ersetzung von Klauseln auf dispositive Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts oder Vorschriften, die im Falle einer entsprechenden Vereinbarung der Parteien anwendbar seien, beschränke und insbesondere auf der Prämisse beruhe, dass solche Bestimmungen keine missbräuchlichen Klauseln enthalten. Laut EuGH sollen diese Bestimmungen nämlich das Gleichgewicht widerspiegeln, das der nationale Gesetzgeber zwischen allen Rechten und Pflichten der Parteien bestimmter Verträge in Fällen habe herstellen wollen, in denen die Parteien entweder nicht von einer vom nationalen Gesetzgeber für die betreffenden Verträge vorgesehenen Standardregel abgewichen seien oder ausdrücklich für die Anwendbarkeit einer vom nationalen Gesetzgeber zu diesem Zweck eingeführten Regel optiert hätten.

Hier keine Ersetzungsbefugnis - Zeitpunkt des Rechtsstreits über Streichung der Klauseln maßgeblich

Die oben angeführten allgemeinen Bestimmungen des polnischen Rechts scheinen nach Ansicht des EuGH aber nicht Gegenstand einer besonderen Prüfung durch den Gesetzgeber im Hinblick auf die Herstellung dieses Gleichgewichts gewesen zu sein, so dass für diese Vorschriften nicht die Vermutung gelte, dass sie nicht missbräuchlich sind. Daher geht der EuGH davon aus, dass diese Bestimmungen nicht die Lücken eines Vertrags schließen könnten, die durch den Wegfall der darin enthaltenen missbräuchlichen Klauseln entstanden seien. Da ja die Möglichkeit der Ersetzung der Klauseln den effektiven Schutz des Verbrauchers gewährleisten solle, indem seine tatsächlichen und gegenwärtigen Interessen gegen möglicherweise nachteilige Folgen, die sich aus der Feststellung der Unwirksamkeit des betreffenden Vertrags als Ganzes ergeben könnten, geschützt würden, seien diese Folgen anhand der zum Zeitpunkt des Rechtsstreits über die Streichung der betreffenden missbräuchlichen Klauseln bestehenden oder vorhersehbaren Umstände und nicht anhand der zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestehenden Umstände zu beurteilen.

Richtlinie steht Feststellung der kompletten Vertragsunwirksamkeit nicht entgegen

Der EuGH weist sodann darauf hin, dass nach der Richtlinie ein Vertrag ohne die zuvor in ihm enthaltenen missbräuchlichen Klauseln für die Parteien hinsichtlich seiner anderen Klauseln bindend bleibe, sofern er ohne die weggefallenen missbräuchlichen Klauseln bestehen könne und ein solcher Fortbestand des Vertrags im innerstaatlichen Recht rechtlich möglich sei. Insoweit merkt der EuGH an, dass sich laut nationalem Gericht nach dem bloßen Wegfall der Klauseln über die Wechselkursdifferenz durch die kumulative Wirkung der Entkopplung von CHF und der fortgesetzten Anwendung eines auf dem Zinssatz von CHF basierenden Zinssatzes der Hauptgegenstand des Vertrags seiner Art nach zu ändern scheine. Da eine solche Änderung im polnischen Recht aber offenkundig rechtlich unmöglich sei, stehe die Richtlinie der Feststellung der Unwirksamkeit des streitigen Vertrags durch das polnische Gericht nicht entgegen.

Indirekte Auswirkungen auf Wechselkursrisiko als vertraglichem Hauptgegenstand

In diesem Punkt betonte der EuGH, dass die Nichtigerklärung der streitigen Klauseln nicht nur zur Beseitigung des Indexierungsmechanismus und der Wechselkursdifferenz, sondern indirekt auch zum Wegfall des Wechselkursrisikos führen würde, das in unmittelbarem Zusammenhang mit der Kopplung des Darlehens an eine Währung stehe. Die Klauseln über das Wechselkursrisiko definierten aber den Hauptgegenstand eines an eine Fremdwährung gebundenen Darlehensvertrags, so dass jedenfalls ungewiss sei, ob die Aufrechterhaltung des betreffenden Darlehensvertrags objektiv möglich ist.

Verbraucher kann auf Schutz verzichten 

Abschließend weist der EuGH darauf hin, dass das durch die Richtlinie geschaffene System zum Schutz vor missbräuchlichen Klauseln nicht zur Anwendung komme, falls der Verbraucher es vorziehe, sich nicht darauf zu berufen. Denn der Verbraucher müsse sich auch weigern können, nach eben diesem System vor den nachteiligen Folgen, die sich aus der Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrags als Ganzes ergäben, geschützt zu werden, wenn er diesen Schutz nicht in Anspruch nehmen möchte.

EuGH, Urteil vom 03.10.2019 - C-260/18

Redaktion beck-aktuell, 4. Oktober 2019.