EuGH: Polen verstößt mit Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Obersten Gerichts gegen EU-Recht

Die polnischen Rechtsvorschriften über die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Obersten Gerichts stehen im Widerspruch zum Unionsrecht. Die streitigen Maßnahmen verstoßen laut Europäischem Gerichtshof gegen die Grundsätze der Unabsetzbarkeit der Richter und der richterlichen Unabhängigkeit (Urteil vom 24.06.2019, Az.: C-619/18).

Tätigkeit über Altersgrenze hinaus von Genehmigung des Präsidenten abhängig

Am 03.04.2018 trat das neue polnische Gesetz über das Oberste Gericht in Kraft, das das Ruhestandsalter für Richter am Obersten Gericht auf 65 Jahre herabsetzte. Die neue Altersgrenze galt seit dessen Inkrafttreten – auch für vor diesem Zeitpunkt an dieses Gericht berufene Richter. Richter am Obersten Gericht konnten ihr Richteramt über die Altersgrenze von 65 Jahren hinaus ausüben, sofern sie eine Erklärung, ihr Amt weiter ausüben zu wollen, und eine Bescheinigung, dass ihr Gesundheitszustand ihnen die Ausübung ihres Amtes erlaubt, vorlegten und der Präsident der Republik Polen dies genehmigte. Bei der Erteilung dieser Genehmigung war der Präsident der Republik Polen an keine Kriterien gebunden und unterlag keiner richterlichen Kontrolle. Nach dem neuen Gesetz mussten somit die amtierenden Richter am Obersten Gericht, die vor dessen Inkrafttreten beziehungsweise bis zum 03.07.2018 das 65. Lebensjahr vollendet hatten, am 04.07.2018 in den Ruhestand treten, es sei denn, sie hatten bis zum 03.05.2018 die vorgenannte Erklärung und die Bescheinigung über ihren Gesundheitszustand vorgelegt und der Präsident der Republik Polen hatte ihnen die Genehmigung erteilt, ihr Amt am Obersten Gericht weiter auszuüben.

EU-Kommission reichte Klage ein

Am 02.10.2018 hat die Kommission beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage eingereicht. Nach ihrer Auffassung hat Polen sowohl dadurch, dass es das Ruhestandsalter herabgesetzt und das herabgesetzte Ruhestandsalter auf die bis zum 03.04.2018 an dieses Gericht berufenen Richter angewandt hat, als auch dadurch, dass es dem Präsidenten der Republik Polen die Befugnis verliehen hat, den aktiven Dienst der Richter am Obersten Gericht nach freiem Ermessen zu verlängern, gegen das Unionsrecht verstoßen. Mit Beschluss vom 15.11.2018 hat der Präsident des EuGH dem Antrag der Kommission, über diese Klage im Rahmen eines beschleunigten Verfahrens zu entscheiden, stattgegeben. Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, die im vorliegenden Verfahren beanstandeten Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht seien zwar durch ein Gesetz vom 21.11.2018 geändert worden, doch sei nicht sicher, ob durch dieses Gesetz die geltend gemachten Verstöße gegen das Unionsrecht beseitigt worden seien. Jedenfalls bestehe wegen der Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit in der Unionsrechtsordnung weiterhin ein Interesse an der Entscheidung dieser Rechtssache.

Rechtsstaatlichkeit grundlegender Wert innerhalb der EU

In seinem Urteil erinnert der Gerichtshof zunächst daran, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen übrigen Mitgliedstaaten die in Art. 2 EUV genannten gemeinsamen Werte teilt und anerkennt, dass diese sie mit ihm teilen. Zu diesen Werten zähle die Rechtsstaatlichkeit. Diese Prämisse impliziere und rechtfertige die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere ihren Gerichten bei der Anerkennung dieser Werte, auf die sich die Union gründet.

Unabhängigkeit der Richter für wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz unabdingbar

Im Übrigen falle zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit. Unbeschadet dessen müssten die Mitgliedstaaten aber bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. Folglich müssten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen, damit ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz im Sinn der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Insbesondere müsse jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür sorgen, dass Einrichtungen, die als "Gerichte" im Sinn des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewähren. Damit eine Einrichtung wie das Oberste Gericht in der Lage ist, einen solchen Schutz zu bieten, sei die Unabhängigkeit dieser Einrichtung von grundlegender Bedeutung. Folglich könnten die von der Kommission mit ihrer Klage beanstandeten nationalen Vorschriften Gegenstand einer Kontrolle anhand von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sein.

Grundsatz der Unabsetzbarkeit

Der EuGH stellt sodann fest, dass die unerlässliche Freiheit der Richter von jeglichen Interventionen oder jeglichem Druck von außen bestimmte Garantien – darunter die Unabsetzbarkeit – erfordert, die geeignet sind, die mit der Aufgabe des Richtens Betrauten in ihrer Person zu schützen. Der Grundsatz der Unabsetzbarkeit erfordere insbesondere, dass die Richter im Amt bleiben dürfen, bis sie das obligatorische Ruhestandsalter erreicht haben oder ihre Amtszeit, sofern diese befristet ist, abgelaufen ist. Dieser Grundsatz beanspruche zwar nicht völlig absolute Geltung, so der EuGH. Doch dürften Ausnahmen von ihm nur unter der Voraussetzung gemacht werden, dass dies durch legitime und zwingende Gründe gerechtfertigt ist und dabei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird.

Vorzeitige Beendigung richterlicher Tätigkeit nur ausnahmsweise zulässig

Im vorliegenden Fall habe die beanstandete Reform, nach der die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Obersten Gerichts auf bereits an diesem Gericht amtierende Richter Anwendung findet, zur Folge, dass diese ihre richterliche Tätigkeit vorzeitig beenden. Eine solche Anwendung sei nur statthaft, wenn sie durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt und im Hinblick auf dieses Ziel verhältnismäßig ist und sofern sie nicht geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit des betreffenden Gerichts für äußere Faktoren und an seiner Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen.

Herabsetzung des Ruhestandalters nicht gerechtfertigt

Der Gerichtshof verwirft das Vorbringen Polens, die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Obersten Gerichts auf das 65. Lebensjahr sei Ausdruck des Willens, dieses Alter dem allgemeinen Ruhestandsalter anzugleichen, das für sämtliche Berufstätige in Polen gelte. Die Begründung des Gesetzentwurfs und die Einführung des neuen Verfahrens der Verlängerung der Dienstzeit durch den Präsidenten begründeten ernsthafte Zweifel, was die wahren Ziele dieser Reform betrifft. Zudem erscheine diese Maßnahme zur Erreichung der von Polen genannten Ziele weder geeignet noch verhältnismäßig. Demzufolge stellt der Gerichtshof fest, dass die Anwendung der Herabsetzung des Ruhestandsalters auf amtierende Richter des Obersten Gerichts nicht durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist und den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter beeinträchtigt, der untrennbar mit ihrer Unabhängigkeit verknüpft ist.

Auch Voraussetzungen für Verlängerung der Amtstätigkeit garantieren keine Unabhängigkeit

Der EuGH hebt ferner hervor, dass die Garantien der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit der Gerichte erfordern, dass die betreffende Einrichtung ihre Aufgaben in völliger Autonomie wahrnimmt, sodass sie vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist. Er stellt insoweit fest, dass die Voraussetzungen und Verfahrensmodalitäten, von denen das neue Gesetz die mögliche Verlängerung der Amtszeit der Richter des Obersten Gerichts über das normale Ruhestandsalter hinaus abhängig macht, diesen Anforderungen nicht gerecht werden. Eine solche Verlängerung hänge nach dem neuen Gesetz nunmehr nämlich von einer Entscheidung des Präsidenten der Republik ab, die in dessen freien Ermessen stehe, da für ihren Erlass als solchen keine objektiven und nachprüfbaren Kriterien gebe, und die nicht begründet werden müsse. Außerdem könne eine solche Entscheidung nicht Gegenstand einer Klage bei einem Gericht sein.

Zweifel der Rechtsunterworfenen an Neutralität der Richter zu erwarten

Im Übrigen habe sich der Landesjustizrat, der gegenüber dem Präsidenten der Republik eine Stellungnahme abzugeben hat, bevor dieser seine Entscheidung trifft, im Allgemeinen und in Ermangelung einer Vorschrift, wonach er diese begründen muss, darauf beschränkt, Stellungnahmen abzugeben, die, gleich, ob sie befürwortend oder ablehnend ausfallen, entweder überhaupt nicht begründet sind oder eine rein formelle Begründung enthalten. Daher könnten solche Stellungnahmen nicht dazu beitragen, objektive Anhaltspunkte für die Ausübung der dem Präsidenten der Republik verliehenen Befugnis zu liefern, einem Richter des Obersten Gerichts, nachdem dieser das normale Ruhestandsalter erreicht hat, zweimal, jeweils für drei Jahre, zwischen dem 65. und dem 71. Lebensjahr die weitere Ausübung seines Amts zu gestatten oder zu verweigern. Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass die Befugnis geeignet ist, unter anderem bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der betroffenen Richter für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen.

EuGH, Urteil vom 24.06.2019 - C-619/18

Redaktion beck-aktuell, 24. Juni 2019.