Nationale Verfahrensgrundsätze dürfen Missbrauchsprüfung von Verbrauchervertragsklauseln nicht entgegenstehen

Eine wirksame Überprüfung der potenziellen Missbräuchlichkeit von Verbrauchervertragsklauseln darf mit Blick auf den Effektivitätsgrundsatz nicht durch nationale Verfahrensgrundsätze ausgehebelt werden. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteilen vom 17.05.2022 in vier Fällen entschieden.

Streit in fünf Rechtssachen

In einem spanischen Streit (Az.: C-869/19) geht es um eine als missbräuchlich angegriffene Mindestzinsklausel bei einem Hypothekendarlehen. In der Rechtssache C-600/19 geht es um ein nicht erfülltes Hypothekendarlehen, bei dem erst im Vollstreckungsverfahren die Missbräuchlichkeit der Verzugszinsklausel und der Mindestzinssatzklausel geltend gemacht wurde, also zu einem Zeitpunkt, als die Rechtskrafts- und die Ausschlusswirkung es weder dem Gericht erlaubten, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit von Klauseln zu prüfen, noch es dem Verbraucher erlaubten, die Missbräuchlichkeit der Klauseln geltend zu machen. Die Ausgangsrechtsstreitigkeiten C-693/19 und C-831/19 betreffen Zwangsvollstreckungsverfahren auf der Grundlage rechtskräftig gewordener Vollstreckungstitel. Die italienischen Vollstreckungsgerichte werfen die Frage nach der Missbräulichkeit der Vertragsstrafenklausel und der Verzugszinsklausel der Darlehensverträge sowie bestimmter Klauseln der Bürgschaftsverträge auf. Im letzten Verfahren (Az.: C-725/19) ging es im Rahmen eines rumänischen Rechtsstreits um Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in Bezug auf einen Verbraucher-Leasingvertrag mit möglicherweise missbräuchlichen Klauseln. Nach rumänischem Verfahrensrecht ist ein mit der Beschwerde gegen die Zwangsvollstreckung befasstes Gericht nicht berechtigt von Amts wegen oder auf Antrag des Verbrauchers zu prüfen, ob die Vertragsklauseln des Leasingvertrags missbräuchlich sind.

 

Auf der Grundlage dieser Verträge hatten die Gläubiger den Erlass von Mahnbescheiden erwirkt, die unanfechtbar geworden sind. Die Gerichte hatten allerdings darauf hingewiesen, dass sich nach den Grundsätzen des innerstaatlichen Verfahrensrechts in dem Fall, dass der Verbraucher keinen Widerspruch einlege, die Rechtskraft eines Mahnbescheids darauf erstrecke, dass die Klauseln des Bürgschaftsvertrags nicht missbräuchlich seien, und zwar selbst dann, wenn der Richter, der den Mahnbescheid erlassen habe, die Missbräuchlichkeit dieser Klauseln in keiner Weise ausdrücklich geprüft habe.

Rechtssache C-869/19

 wollte der Oberste Gerichtshof wissen, ob das nationale Recht mit dem Unionsrecht insbesondere insoweit vereinbar sei, als ein nationales Gericht, das mit einer Berufung gegen ein Urteil befasst sei, mit dem der Erstattung der vom Verbraucher aufgrund einer für missbräuchlich erklärten Klausel rechtsgrundlos gezahlten Beträge zeitliche Grenzen gesetzt werden, einen Verstoß gegen die Richtlinie 93/13 nicht von Amts wegen aufgreifen und keine vollständige Erstattung dieser Beträge anordnen dürfe.

EuGH sieht Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz 

Der Gerichtshof hat unter Verweis auf seine Rechtsprechung bestätigt, dass das Unionsrecht einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, die Restitutionswirkungen in zeitlicher Hinsicht auf diejenigen Beträge beschränkt, die auf Grundlage einer missbräuchlichen Klausel rechtsgrundlos gezahlt wurden, nachdem die Gerichtsentscheidung verkündet worden war, mit der die Missbräuchlichkeit festgestellt wurde. Der Gerichtshof vertritt die Auffassung, dass die Anwendung der betreffenden nationalen gerichtlichen Verfahrensgrundsätze den Schutz dieser Rechte unmöglich machen oder übermäßig erschweren kann und folglich den Effektivitätsgrundsatz beeinträchtigt. 

Recht auf Überprüfung der Missbräuchlichkeit von Klauseln

Das Unionsrecht stehe auch nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die in Anbetracht von Rechtskraft und Ausschlusswirkung weder dem Gericht erlauben, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln im Rahmen eines Hypothekenvollstreckungsverfahrens zu prüfen noch dem Verbraucher erlauben, nach dem Ablauf der Einspruchsfrist die Missbräuchlichkeit dieser Klauseln in diesem Verfahren oder einem späteren Erkenntnisverfahren geltend zu machen, wenn diese Klauseln bereits bei der Einleitung des Hypothekenvollstreckungsverfahrens von Amts wegen von dem Gericht auf ihre etwaige Missbräuchlichkeit hin geprüft wurden, die gerichtliche Entscheidung, mit der die Zwangsvollstreckung aus der Hypothek gestattet wird, aber keine – selbst summarische – Begründung enthält, die diese Prüfung belegt, und in dieser Entscheidung nicht darauf hingewiesen wird, dass die Beurteilung, zu der das Gericht am Ende dieser Prüfung gelangt ist, nicht mehr in Frage gestellt werden kann, wenn nicht fristgemäß Einspruch eingelegt wird.

Wahrung der Verbraucheransprüche

Gerichte könnten keine Prüfung der Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln vornehmen, die zur Aufhebung von Eigentumsübertragungsakten führen und die Rechtssicherheit - der bereits an einen Dritten erfolgten Eigentumsübertragung - nicht mehr in Frage stellen würde, wenn das Hypothekenvollstreckungsverfahren bereits beendet und die Eigentumsrechte an der Immobilie an einen Dritten übertragen worden sind. Der Verbraucher müsse jedoch in einer solchen Situation, um seine Rechte aus der Richtlinie wirksam und vollständig ausüben zu können, in der Lage sein, in einem nachfolgenden gesonderten Verfahren die Missbräuchlichkeit der Klauseln des Hypothekendarlehensvertrags geltend zu machen, um Ersatz des finanziellen Schadens zu erlangen, der durch die Anwendung dieser Klauseln verursacht wurde. 

Regelung beeinträchtigt Vertragsklausel-Missbrauchskontrolle

Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass eine solche nationale Regelung wie in den Verfahren C-693/19 und C-831/19 die dem nationalen Gericht obliegende Pflicht aushöhlen kann, von Amts wegen die etwaige Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln zu prüfen. Die an einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu stellende Anforderung verlange, dass das Vollstreckungsgericht – auch erstmals – beurteilen dürfe, ob Vertragsklauseln womöglich missbräuchlich seien, die als Grundlage für einen von einem Gericht auf Antrag eines Gläubigers erlassenen Mahnbescheid gedient haben, gegen den der Schuldner keinen Widerspruch eingelegt habe. 

Hohe Sicherheitsleistung beeinträchtigt Wahrnehmung der Verbraucherrechte 

Auch in dem letzten Fall (C-725/19) hat der Gerichtshof entschieden, dass die nationale Regelung unionsrechtswidrig ist. Es sei wahrscheinlich, dass ein in Zahlungsverzug geratener Schuldner nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfüge, um die erforderliche Sicherheitsleistung zu stellen. Zudem dürften derartige Kosten den Verbraucher nicht davon abhalten, das Gericht anzurufen, um die etwaige Missbräuchlichkeit der Klauseln prüfen zu lassen. Dies erscheine indessen umso mehr dann der Fall zu sein, wenn der Gegenstandswert der eingelegten Rechtsbehelfe den Gesamtwert des Vertrags bei weitem übersteige.

EuGH, Urteil vom 17.05.2022 - C-600/19

Redaktion beck-aktuell, 17. Mai 2022.