Keine generelle Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung schwerer Straftaten
Lorem Ipsum
© jamesteohart / stock.adobe.com

Der Europäische Gerichtshof bekräftigt erneut, dass eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten zur Bekämpfung schwerer Straftaten unionsrechtswidrig ist. Besonders schwere Kriminalität könne einer Bedrohung der nationalen Sicherheit nicht gleichgestellt werden. Zulässig sei aber unter anderem eine gezielte Vorratsdatenspeicherung etwa an "strategischen" Orten wie Flughäfen oder Bahnhöfen.

Vorratsdaten in Mordprozess verwertet

In einem Mordprozess in Irland rügte der erstinstanzlich zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe Verurteilte in der Berufungsinstanz die Verwertung von Verkehrs- und Standortdaten aus Telefonanrufen, die gemäß den irischen Vorschriften auf Vorrat gespeichert worden waren. Um die Unzulässigkeit der Beweise zu untermauern, erstrebte er in einem parallelen Zivilverfahren festzustellen, dass die irischen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung von 2011 wegen Verstoßes gegen Unionsrecht ungültig seien. Der irische High Court gab dem statt. Irland legte dagegen ein Rechtsmittel beim irischen Supreme Court ein. Dieser rief den EuGH zu den unionsrechtlichen Anforderungen an die Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten zum Zweck der Bekämpfung schwerer Straftaten, zu den erforderlichen Garantien im Bereich des Zugangs zu diesen Daten sowie zur zeitlichen Wirkung einer etwaigen Ungültigerklärung der Bestimmungen an.

EuGH bekräftigt: Grundsätzlich keine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung

Der EuGH bekräftigt erneut seine ständige Rechtsprechung, wonach eine präventive allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten zur Bekämpfung schwerer Straftaten unzulässig ist. Die Speicherung dieser Daten stelle eine Ausnahme vom Verbot der Vorratsspeicherung und einen Eingriff in die in der EU-Grundrechtecharta verankerten Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten dar. Die Bekämpfung schwerer Kriminalität könne für sich genommen eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung nicht rechtfertigen. Zwar könne eine als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufende Bedrohung der nationalen Sicherheit für einen begrenzten Zeitraum eine Maßnahme allgemeiner und unterschiedsloser Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten rechtfertigen. Besonders schwere Kriminalität könne dem aber nicht gleichgestellt werden.

Gezielte Vorratsdatenspeicherung etwa an "strategischen" Orten zulässig

Zulässig zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit sei aber eine gezielte Vorratsdatenspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten bestimmter Personengruppen oder anhand eines geografischen Kriteriums, etwa die durchschnittliche Kriminalitätsrate in einem geografischen Gebiet oder "strategische" Orte wie Flughäfen, Bahnhöfe, Seehäfen oder Mautstellen. Zulässig zur Bekämpfung schwerer Kriminalität sei weiter eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von IP-Adressen, der Identitätsdaten der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel, sowie eine umgehende Sicherung ("quick freeze") der Verkehrs- und Standortdaten. Der EuGH weist darauf hin, dass die EU-Staaten die Überprüfung und Speicherung der Identität des Käufers eines elektronischen Kommunikationsmittels – wie einer vorausbezahlten SIM-Karte – durch den Verkäufer sowie die Pflicht, den zuständigen nationalen Behörden Zugang zu den Daten zu gewähren, vorschreiben dürfen.

Zeitpunkt und Umfang eines "quick freeze"

Einen "quick freeze" dürften die Behörden bereits im ersten Stadium der Ermittlungen bezüglich einer schweren Bedrohung der öffentlichen Sicherheit oder einer möglichen schweren Straftat anordnen. Die Sicherung könne auf die Verkehrs- und Standortdaten anderer als der Personen erstreckt werden, die im Verdacht stünden, eine schwere Straftat oder eine Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit geplant oder begangen zu haben, sofern diese Daten auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien zur Aufdeckung einer solchen Straftat oder einer solchen Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit beitragen könnten. Dazu gehörten die Daten des Opfers sowie seines sozialen oder beruflichen Umfelds. Die verschiedenen Maßnahmen könnten je nach der Wahl des nationalen Gesetzgebers und unter Einhaltung der Grenzen des absolut Notwendigen gleichzeitig angewendet werden.

Zugang zu Vorratsdaten durch Gericht oder unabhängige Verwaltungsstelle zu kontrollieren

Der EuGH weist weiter darauf hin, dass zu Verkehrs- und Standortdaten, die allgemein und unterschiedslos auf Vorrat gespeichert worden seien, um einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit zu begegnen, kein Zugang zum Zweck der Bekämpfung schwerer Kriminalität gewährt werden dürfe. Anderenfalls würde das Verbot einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung zum Zweck der Bekämpfung schwerer Straftaten entwertet. Der EuGH unterstreicht weiter, dass über den Zugang zu gespeicherten Vorratsdaten ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle entscheiden müsse. Ein Polizeibeamter genüge nicht den Anforderungen an eine unabhängige Verwaltungsstelle.

Zulässigkeit der erlangten Beweismittel nach nationalem Recht zu prüfen

Schließlich bestätigt der EuGH seine Rechtsprechung, dass ein nationales Gericht die Wirkungen einer Ungültigerklärung einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung zur Bekämpfung schwerer Straftaten nicht zeitlich begrenzen könne. Der EuGH weist aber darauf hin, dass die Zulässigkeit der durch eine solche Vorratsspeicherung erlangten Beweismittel nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Beachtung unter anderem der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität dem nationalen Recht unterliegt.

Verein Digitalcourage sieht eigene Verfassungsbeschwerde gegen deutsche Vorratsdatenspeicherung gestärkt

Digitalcourage e.V. will die Auswirkungen des heuten Urteils auf die eigene Verfassungsbeschwerde gegen die deutsche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung prüfen. Der Verein blickt dabei kritisch auf die Ausnahmen, die der EuGH offen lässt. Er fürchtet, dass Regierungen diese nutzen werden, um den Wesenskern der Entscheidung des EuGH zu unterwandern. Vorratsdatenspeicherung vermeintlich gezielt an bestimmten Orten zu ermöglichen, riskiere eine Legalisierung der grundrechtswidrigen Massenüberwachung von weiten Teilen der Bevölkerung. "Diese Ausnahmeregelungen gehen auch auf den massiven Druck zurück, den Mitgliedsstaaten seit Jahren auf den EuGH ausüben. Wie mit der Brechstange wird hier immer wieder versucht, Stück für Stück das Verbot anlassloser Massenüberwachung auszuhöhlen. Dadurch gibt es möglicherweise Schlupflöcher, mit denen Staaten – mit dem neuen Anstrich von sogenannten gezielten Maßnahmen – wieder anlasslose Vorratsdatenspeicherung einführen", sagt Konstantin Macher von Digitalcourage.

Bayern fordert die rasche Wiederbelebung der Verkehrsdatenspeicherung in Deutschland

Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) forderte die Bundesregierung auf, die im Urteil genannten Spielräume zeitnah zu nutzen. "Der Kampf gegen Kinderpornografie zeigt es sehr deutlich: Fehlende Daten verhindern, dass wir Straftaten aufklären und zum Teil noch laufenden Missbrauch stoppen können. Die Verkehrsdatenspeicherung muss deshalb – soweit es der Gerichtshof zulässt – rasch wiederbelebt werden. Der Bundesjustizminister ist offensichtlich nicht dazu bereit. Dafür fehlt mir jedes Verständnis. Ich halte das für fahrlässig", so Eisenreich. Es gehe ihm dabei nicht um die Speicherung von Inhalten, sondern um die Zuordnung von IP-Adressen zu Personen. Klar sei, dass der Zugriff unter dem Vorbehalt der richterlichen Entscheidung stehen müsse und nur befristet bei schweren Straftaten möglich sein dürfe. Das auch vom Bundesjustizminister ins Spiel gebrachte Einfrieren von Telekommunikationsdaten direkt nach der Tat ("quick freeze") sei kein gleichwertiger Ersatz. Es würde lediglich die Sicherung von Daten ermöglichen, nachdem die Straftat den Behörden bereits bekannt geworden ist. Die Verbindungsdaten seien dann aber in der Regel längst gelöscht.

Redaktion beck-aktuell, 5. April 2022.