Freier Zugang zur Verkehrssünderkartei in Lettland unionsrechtswidrig
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Die lettische Regelung, nach der die Straßenverkehrsbehörden verpflichtet sind, die Daten über Strafpunkte, die gegen Fahrzeugführer wegen Verkehrsverstößen verhängt wurden, für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, verstößt gegen das europäische Datenschutzrecht. Es sei nicht erwiesen, dass die Regelung zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit beitrage und ein Interesse an der Datenveröffentlichung begründe, so der Gerichtshof der Europäischen Union.

Verfassungsbeschwerde in Lettland

Der in Lettland lebende Kläger wurde wegen mehrerer Verkehrsverstöße in das lettische Register für Fahrzeuge und Fahrzeugführer eingetragen. Nach der dort geltenden Straßenverkehrsregelung sind die Informationen über gegen Fahrzeugführer verhängte und in diesem Register eingetragene Strafpunkte öffentlich zugänglich und müssen jeder Person von der Behörde (CSDD) übermittelt werden, die dies – auch ohne ein besonderes Interesse darzulegen – beantragt. Der Kläger erhob vor dem lettischen Verfassungsgericht Verfassungsbeschwerde, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens überprüfen zu lassen. Das Verfassungsgericht ersuchte den EuGH um Abklärung der Vereinbarkeit mit der europäischen DS-GVO.

EuGH: Lettische Regelung verstößt gegen Unionsrecht

Der Gerichtshof hat entschieden, dass die lettische Regelung gegen die DS-GVO verstößt. Die Übermittlung personenbezogener Daten über Verkehrsverstöße trage nicht zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit bei. Die Regelung sei weder mit dem Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu amtlichen Dokumenten noch dem Recht auf Informationsfreiheit zu rechtfertigen. Die Verarbeitung personenbezogener Daten über Strafpunkte sei eine "Verarbeitung personenbezogener Daten über strafrechtliche Verurteilungen und Straftaten". Sie falle in den Anwendungsbereich der DS-GVO, die wegen der besonderen Sensibilität der betreffenden Daten einen erhöhten Schutz vorsehe. Dies ergebe sich insbesondere mit Blick auf den repressiven Charakter der Strafpunkte im Zusammenhang mit der Ahndung von Verkehrsverstößen. Auch die Ausnahmen zur Wahrung der nationalen Sicherheit oder für Verarbeitungen personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden im Bereich des Strafrechts griffen hier nicht. Die CSDD könne nicht als eine solche "zuständige Behörde" angesehen werden.

Übermittlung kann Stigmatisierung bewirken und ist unverhältnismäßig

Das mit der lettischen Regelung verfolgte Ziel der Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit sei zwar ein von der Union anerkanntes Ziel im allgemeinen Interesse. Allerdings sei nicht nachgewiesen, dass die lettische Regelung der Übermittlung personenbezogener Daten über Strafpunkte zur Gewährleistung des verfolgten Ziels erforderlich sei. Der lettische Gesetzgeber verfüge über eine Vielzahl von anderweitigen und letztlich milderen Möglichkeiten, um das Ziel zu erreichen. Dies gelte insbesondere angesichts des Umstands, dass die Übermittlung der Daten an die Öffentlichkeit einen schweren Eingriff in die Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten darstelle, der zu einer Missbilligung durch die Gesellschaft und zur Stigmatisierung der betroffenen Person führen könne.

Allgemeines Recht auf Informationsfreiheit muss zurückstehen

Die zu schützenden Grundrechte der Betroffenen gingen sowohl dem Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu amtlichen Dokumenten als auch dem Recht auf Informationsfreiheit vor. Darüber hinaus verbiete es sich gleichsam, Daten über Strafpunkte, die gegen Fahrzeugführer wegen Verkehrsverstößen verhängt wurden, an Wirtschaftsteilnehmer zu übermitteln, damit diese sie weiterverwenden und an die Öffentlichkeit übermitteln können. Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass die Rechtswirkungen der streitigen Regelung nicht bis zum Zeitpunkt der Verkündung eines endgültigen Urteils aufrechterhalten werden dürfen.

EuGH, Urteil vom 22.06.2021 - C-439/19

Redaktion beck-aktuell, 22. Juni 2021.