EuGH: Europäischer Haftbefehl muss trotz Brexits vollstreckt werden

Die Mitteilung des Vereinigten Königreichs über seine Absicht, aus der Europäischen Union auszutreten, hat nicht zur Folge, dass die Vollstreckung eines von ihm ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigert oder vertagt werden darf. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 19.09.2018 klargestellt. Soweit keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigte Gründe dafür vorliegen, dass dem Betroffenen die von der Charta und dem Rahmenbeschluss zuerkannten Rechte genommen werden, sei der Haftbefehl zu vollstrecken, betonte das Gericht (Az.: C-327/18 PPU, BeckRS 2018, 22076).

Streit um Übergabe an Vereinigtes Königreich

Im zugrundeliegenden Fall erließ das Vereinigte Königreich 2016 zwei Europäische Haftbefehle gegen RO (den ersten im Januar 2016 und den zweiten im Mai 2016) zur Strafverfolgung wegen Totschlags, Brandstiftung und Vergewaltigung. RO wurde aufgrund dieser Haftbefehle in Irland festgenommen und befindet sich seit dem 03.02.2016 in Haft. RO erhob Einwände gegen seine Übergabe an das Vereinigte Königreich, wobei er sich unter anderem auf Fragen im Zusammenhang mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union stützte.

Zweifel nach Brexit-Entscheidung

Der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) wies alle Einwände von RO zurück, mit Ausnahme derjenigen im Zusammenhang mit den Folgen des Brexit. Er möchte deshalb vom EuGH wissen, ob angesichts der vom Vereinigten Königreich am 29.03.2017 mitgeteilten Absicht, aus der Union auszutreten, und der Ungewissheit darüber, welche Regelungen nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs gelten werden, die an sich erforderliche Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, an das Vereinigte Königreich unterbleiben muss.

Ablehnung der Vollstreckung eng auszulegen

Der EuGH wies zunächst darauf hin, dass angesichts des fundamentalen Prinzips des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, das dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz darstelle, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen sei. Die Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten, bewirke nicht die Aussetzung der Anwendung des Unionsrechts in dem Mitgliedstaat. Die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses und die diesem immanenten Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung in diesem Staat würden bis zu seinem tatsächlichen Austritt aus der Union vollumfänglich in Kraft bleiben.

Bloße Mitteilung über Austrittsabsicht kein Grund für Verweigerung der Vollstreckung des Haftbefehls

Der EuGH komme daher zu dem Ergebnis, dass die bloße Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, aus der Union auszutreten, kein "außergewöhnlicher" Umstand ist, der es rechtfertigen könnte, die Vollstreckung eines von diesem Mitgliedstaat ausgestellten Europäischen Haftbefehls zu verweigern. Diese Folge würde eine einseitige Aussetzung der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses darstellen und verstieße zudem gegen dessen Wortlaut, wonach es Sache des Europäischen Rates sei, eine Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen Grundsätze im Ausstellungsmitgliedstaat im Hinblick auf die Aussetzung des Europäischen Haftbefehls festzustellen.

Grundrechte auszuliefernder Person müssen auch nach Austritt gewährleistet sein

Demgegenüber betont der EuGH, dass die vollstreckende Justizbehörde noch zu prüfen habe, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die dieser Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Austritt des Ausstellungsmitgliedstaats aus der Union der Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr die Grundrechte und die Rechte, die ihr im Wesentlichen aus dem Rahmenbeschlusses erwachsen, nicht mehr zustehen.

Vereinigtes Königreich bleibt Vertragspartei der EMRK

In diesem Zusammenhang hebt der EuGH hervor, dass das Vereinigte Königreich Vertragspartei der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist und dass seine weitere Beteiligung an dieser Konvention nicht an seine Zugehörigkeit zur Union gebunden ist. Darüber hinaus sei das Vereinigte Königreich auch Vertragspartei des Europäischen Auslieferungsabkommens vom 13.12.1957 und habe weitere Rechte und Pflichten, die derzeit im Rahmenbeschluss enthalten sind, in sein nationales Recht aufgenommen.

Greifbare Anhaltspunkte erforderlich

Der EuGH ist daher der Auffassung, dass die vollstreckende Justizbehörde unter diesen Umständen annehmen darf, dass der Mitgliedstaat, der den Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat, nach seinem Austritt aus der Union auf die zu übergebende Person im Wesentlichen den Inhalt der für die Zeit nach der Übergabe geltenden Rechte aus dem Rahmenbeschluss anwenden wird. Nur bei Vorliegen greifbarer Anhaltspunkte, die auf den Beweis des Gegenteils hinauslaufen, dürften die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung der Europäischen Haftbefehls verweigern. Es habe nicht den Anschein, dass solche Anhaltspunkte vorhanden sind, doch sei es Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen.

EuGH, Urteil vom 19.09.2018 - C-327/18

Redaktion beck-aktuell, 19. September 2018.