Eltern-/Kindernachzug trotz zwischenzeitlich eingetretener Volljährigkeit
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Einem Elternteil darf ein Visum zur Familienzusammenführung mit einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nicht deshalb verweigert werden, weil dieser während des Verfahrens volljährig gewordenen ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts entschieden. Ebenso wenig dürfe der Antrag eines Kindes abgelehnt werden, weil es vor der Flüchtlingsanerkennung seines Vaters und vor der Antragsstellung volljährig gewordenen sei.

Familienzusammenführung wegen zwischenzeitlicher Volljährigkeit der Kinder abgelehnt

Ein Elternpaar und ein Elternteil aus Syrien beantragten Visa zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihren in Deutschland als Flüchtlinge anerkannten Kindern. In einem weiteren Fall begehrte ein syrisches Kind ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinem in Deutschland als Flüchtling anerkannten Vater. Ihre Anträge wurden mit der Begründung abgelehnt, dass die Kinder in der Zwischenzeit volljährig geworden seien. Das Verwaltungsgericht Berlin verpflichtete Deutschland zur Erteilung der begehrten Visa, da die Kinder nach der EuGH-Rechtsprechung als Minderjährige zu betrachten seien. Deutschland legte dagegen Revision beim Bundesverwaltungsgericht ein, das den EuGH anrief. Laut BVerwG hätten Eltern eines minderjährigen Flüchtlings nach § 36 Abs. 1 AufenthG nur dann einen Anspruch auf Familienzusammenführung, wenn das Kind noch im Zeitpunkt der behördlichen oder tatsachengerichtlichen Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung minderjährig ist. Im Kindesnachzugsfall war das Kind bereits vor der Stellung des Visumantrags volljährig geworden.

EuGH: Bei Elternnachzug Zeitpunkt der behördlichen/gerichtlichen Entscheidung für Beurteilung der Minderjährigkeit unmaßgeblich

Zum Fall des Elternnachzugs hat der EuGH entschieden, dass es mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, für das Alter des Kindes auf den Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung über den Visumsantrag zum Zweck der Familienzusammenführung abzustellen. Er unterstrich, dass die Richtlinie im Licht des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls auszulegen sei. Die nationalen Behörden und Gerichte hätten aber anderenfalls keine Veranlassung, die Anträge der Eltern Minderjähriger mit der gebotenen Dringlichkeit vorrangig zu bearbeiten, um der Schutzbedürftigkeit der Minderjährigen Rechnung zu tragen. Sie könnten somit in einer Weise handeln, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährden würde. Ferner hinge der Erfolg eines Antrags auf Familienzusammenführung anderenfalls hauptsächlich von Umständen ab, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte lägen. Dies stünde nicht im Einklang mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit, da eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, nicht gewährleistet würde.

Elternnachzug auch bei zwischenzeitlicher Volljährigkeit

Für einen Elternnachzug ist es dem EuGH zufolge daher nicht Bedingung, dass das Kind auch noch zum Zeitpunkt der Entscheidung über den von den Eltern gestellten Visumsantrag zum Zweck der Familienzusammenführung minderjährig ist. Ferner stehe die fragliche Richtlinie einer nationalen Regelung entgegen, nach der in einem solchen Fall das Aufenthaltsrecht der Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes ende.

Kindernachzugsfall: Zeitpunkt des Asylantrags des Vaters maßgeblich

Mit im Wesentlichen gleicher Argumentation kommt der EuGH im Kindernachzugsfall zu dem Schluss, dass es für die Minderjährigkeit eines Kindes, das vor der Flüchtlingsanerkennung des Elternteils und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden sei, auf den Zeitpunkt ankomme, zu dem der Elternteil seinen Asylantrag gestellt habe. Ein solcher Antrag auf Familienzusammenführung müsse jedoch innerhalb von drei Monaten ab Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling gestellt werden.

Für familiäre Bindungen kein Zusammenleben im selben Haushalt erforderlich

Der EuGH hält weiter fest, dass die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades oder das bloße rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis nicht für die Annahme genügten, dass tatsächliche familiäre Bindungen zwischen dem betreffenden Elternteil und dem inzwischen volljährig gewordenen Kind bestehen. Es sei jedoch nicht erforderlich, dass der Flüchtling und der andere Familienangehörige im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen, damit Elternteil oder Kind einen Anspruch auf Familienzusammenführung haben können. Gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte könnten für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen.

EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-273/20

Redaktion beck-aktuell, 1. August 2022.