EuGH: Anträge von Drittstaatsangehörigen mit Einreiseverbot auf Familienzusammenführung mit "statischen" EU-Bürgern müssen bearbeitet werden

Ein Antrag auf Familienzusammenführung ist auch dann zu bearbeiten, wenn er von einem Drittstaatsangehörigen, gegen den ein Einreiseverbot verhängt wurde, zum Zweck der Familienzusammenführung mit einem "statischen" Unionsbürger gestellt wird, der nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 08.05.2018 entschieden. Es müsse im Einzelfall geprüft werden, ob zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger ein familiäres Abhängigkeitsverhältnis besteht und ob ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Ordnung verweigert werden kann (Az.: C-82/16, BeckRS 2018, 7744).

Anträge auf Familienzusammenführung wegen Einreiseverbots nicht bearbeitet

Gegen mehrere Staatsangehörige von Drittstaaten (Armenien, Russland, Uganda, Kenia, Nigeria, Albanien, Guinea), die in Belgien wohnen, wurden Rückkehrentscheidungen erlassen, die mit einem Verbot der Einreise in das belgische Hoheitsgebiet verbunden wurden. Bei einigen von ihnen wurde diese Entscheidung mit einer Gefahr für die öffentliche Ordnung begründet. In der Folge stellten die Betroffenen in Belgien Anträge auf Aufenthaltsgewährung als unterhaltsberechtigter Abkömmling eines belgischen Staatsangehörigen, als Elternteil eines minderjährigen belgischen Kindes oder als ein mit einem belgischen Staatsangehörigen in einer dauerhaften stabilen Beziehung gesetzlich zusammenwohnender Partner. Diese Anträge wurden von den zuständigen belgischen Behörden mit der Begründung nicht bearbeitet, dass gegen die Antragsteller Einreiseverbote verhängt worden seien, die noch in Kraft seien. Nachdem ein solches Einreiseverbot bestandskräftig geworden sei, könne es nach dem nationalen Recht grundsätzlich nur aufgehoben oder ausgesetzt werden, wenn im Ausland ein Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung gestellt werde.

Abgeleitetes Aufenthaltsrecht trotz Einreiseverbots und Nichtausübung des Freizügigkeitsrechts durch EU-Bürger?

Das belgische Vorlagegericht führte aus, die Anträge auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck der Familienzusammenführung seien nach einer nationalen Praxis nicht bearbeitet und somit nicht in der Sache geprüft worden, weil gegen die betreffenden Drittstaatsangehörigen Einreiseverbote verhängt worden seien. Die betreffenden Unionsbürger begäben sich auch weder regelmäßig als Arbeitnehmer oder Erbringer von Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat, noch hätten sie anlässlich eines tatsächlichen Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat als Belgien ein Familienleben mit den Drittstaatsangehörigen entwickelt oder gefestigt. Somit stelle sich die Frage, ob die Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG oder Art. 20 AEUV (Unionsbürgerschaft) in diesen Fällen anwendbar sei.

EuGH: Abgeleitetes Aufenthaltsrecht bei familiärem Abhängigkeitsverhältnis möglich

Der EuGH weist auf seine Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft hin, wonach es ganz besondere Sachverhalte gebe, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers sei, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden müsse, obwohl der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt habe. Dies sei der Fall, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das EU-Gebiet als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte verwehrt würde, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht. Die Verpflichtung eines Drittstaatsangehörigen, das Unionsgebiet zu verlassen, um die Aufhebung oder die Aussetzung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots zu beantragen, könne somit die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigen. Dies sei der Fall, wenn zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger ein familiäres Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und ebenfalls das Unionsgebiet für einen Zeitraum zu verlassen, der, worauf das nationale Gericht hinweise, von unbestimmter Dauer wäre.

Abgeleitetes Aufenthaltsrecht rechtfertigendes Abhängigkeitsverhältnis bei Erwachsenen in der Regel nicht gegeben

Anschließend führt der EuGH näher aus, unter welchen Umständen ein Abhängigkeitsverhältnis bestehen könne, das ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für den Familienangehörigen eines Unionsbürgers begründen könne, der sein Recht auf Freizügigkeit nie ausgeübt habe. Der EuGH hebt hervor, dass ein Erwachsener im Unterschied zu Minderjährigen (insbesondere Kleinkindern) grundsätzlich in der Lage sei, ein von seinen Familienangehörigen unabhängiges Leben zu führen. Bei einem Erwachsenen komme ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht somit nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem Familienangehörigen getrennt werden dürfe, von dem sie abhängig sei.

Bei minderjährigen Unionsbürgern sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen

Bei einem minderjährigen Unionsbürger muss laut EuGH der Beurteilung des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zu dem Drittstaatsangehörigen im Interesse des Kindeswohls hingegen die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen, wie das Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, der Grad seiner affektiven Bindung an jeden Elternteil und das Risiko, das für sein inneres Gleichgewicht mit der Trennung von dem drittstaatsangehörigen Elternteil verbunden wäre. Zur Feststellung eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses reiche weder das Bestehen einer familiären Bindung an den Drittstaatsangehörigen aus, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, noch sei ein Zusammenleben mit ihm erforderlich, auch wenn dies ein zu berücksichtigender relevanter Gesichtspunkt sei.

Entstehung des Abhängigkeitsverhältnisses erst nach Verhängung des Einreiseverbots unerheblich

Unerheblich sei es, dass das vom Drittstaatsangehörigen geltend gemachte Abhängigkeitsverhältnis erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde, so der EuGH weiter. Desgleichen sei es unerheblich, dass das Einreiseverbot bereits bestandskräftig war, als der Drittstaatsangehörige seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte.

Gründe der öffentlichen Ordnung für Einreiseverbot stehen abgeleitetem Aufenthaltsrecht nicht automatisch entgegen

Unerheblich ist laut EuGH auch, dass das Einreiseverbot damit gerechtfertigt werde, dass einer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen worden sei. Sei ein solches Verbot mit Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt worden, könnten diese nicht automatisch dazu führen, dass dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht verweigert wird. Die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts könne dem Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung nur dann verweigert werden, wenn sich aus einer konkreten Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Kindeswohls und der Grundrechte ergebe, dass der Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.

Aspekte des Familienlebens in weiterem Rückkehrverfahren bei nicht möglicher früherer Geltendmachung zu berücksichtigen

Die Rückführungsrichtlinie stehe überdies einer nationalen Praxis entgegen, wonach in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, gegen den bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung erlassen worden sei, die noch in Kraft sei, eine Rückkehrentscheidung ergehe, ohne dass dabei die in einem nach Verhängung eines solchen Einreiseverbots gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung erwähnten Aspekte seines Familienlebens (insbesondere das Wohl seines minderjährigen Kindes) berücksichtigt werden, es sei denn, der Betroffene hätte diese Aspekte schon früher anführen können.

EuGH, Urteil vom 08.05.2018 - C-82/16

Redaktion beck-aktuell, 8. Mai 2018.