EuGH: EU-Bügern kann wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen Aufenthaltsrecht verweigert werden

Unionsbürgern oder ihren Familienangehörigen, die in der Vergangenheit mutmaßlich an Kriegsverbrechen beteiligt waren, kann ein Aufenthaltsrecht verweigert werden. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 02.05.2018 entschieden. Voraussetzung sei eine Einzelfallprüfung, bei der zwischen der Gefahr, die der Betroffene für die Grundwerte der Aufnahmegesellschaft darstelle, und dem Schutz der Rechte der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen abzuwägen sei (Az.: C-331/16 und C-366/16).

Mutmaßlicher bosnisch-kroatischer Kriegsverbrecher für unerwünscht erklärt

Der Ausgangskläger in der Rechtssache C-331/16, ein bosnisch-kroatischer Staatsangehöriger, reiste mit seiner Ehefrau und einem minderjährigen Sohn in die Niederlande ein. Drei von ihm gestellte Asylanträge wurden abgelehnt. Mit der Ablehnung des dritten Antrags war ein Einreiseverbot verbunden. Nach dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union beantragte er die Aufhebung des Verbots. Die niederländischen Behörden gaben seinem Antrag statt, erklärten ihn aber für im niederländischen Hoheitsgebiet unerwünscht. Denn ihm seien Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzulasten, die von Spezialeinheiten der bosnischen Armee begangen worden seien. Zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit müsse alles getan werden, um zu verhindern, dass niederländische Bürger mit ausländischen Kriegsverbrechern in Kontakt mit kämen. Insbesondere müsse verhindert werden, dass Opfer der Handlungen, die dem Ausgangskläger zur Last gelegt würden, oder ihre Familienangehörigen ihm in den Niederlanden begegneten.

Afghanischem Vater einer EU-Bürgerin wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen Aufenthaltserlaubnis verweigert

Der Ausgangskläger in der Rechtssache C-366/16, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste ebenfalls in die Niederlande ein und stellte dort erfolglos einen Asylantrag. Anschließend ließen sich er und seine Tochter in Belgien nieder. Nach mehreren erfolglosen Anträgen auf eine Aufenthaltserlaubnis in Belgien stellte der Ausgangskläger erneut einen Antrag als Familienangehöriger eines Unionsbürgers, da seine Tochter die niederländische Staatsangehörigkeit besitze. Die belgischen Behörden lehnten diesen Antrag ab und stützten sich dabei auf Informationen aus der niederländischen Asylakte über den Ausgangskläger. Ihr soll zu entnehmen sein, dass der Ausgangskläger an Kriegsverbrechen oder an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt war oder sie im Rahmen der Ausübung seines Amtes befahl.

Niederländische Gerichte rufen EuGH an

Die niederländischen Vorlagegerichte haben den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren angerufen und um Auslegung der EU-Richtlinie 2004/38/EG über die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger gebeten.

EuGH: Aufenthaltsbeschränkungen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen können rechtmäßig sein

Der EuGH weist zunächst darauf hin, dass die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seines Familienangehörigen unter anderem aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit beschränken dürfen. Beschränke ein Mitgliedstaat die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seines Familienangehörigen, der in der Vergangenheit von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen worden sei, weil schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigten, dass er ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat oder sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderliefen, könne dies unter den Begriff der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit fallen.

Einzelfallprüfung erforderlich

Der EuGH betont aber, dass sich aus der Tatsache, dass der Betroffene in der Vergangenheit von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen worden ist, nicht automatisch schließen lasse, dass seine bloße Anwesenheit im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Denn vor dem Erlass einer auf Gründe der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gestützten Maßnahme sei eine Einzelfallprüfung erforderlich. Die Feststellung des Vorliegens einer solchen Gefahr müsse auf eine Prüfung des persönlichen Verhaltens des Betroffenen gestützt werden, bei der die Feststellungen in der Entscheidung, ihn von der Anerkennung als Flüchtling auszuschließen, und die dieser Entscheidung zugrunde liegenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen seien, insbesondere Art und Schwere der ihm zur Last gelegten Verbrechen oder Handlungen, der Grad seiner persönlichen Beteiligung an ihnen, das etwaige Vorliegen von Gründen für eine Freistellung von seiner strafrechtlichen Verantwortung sowie das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer strafrechtlichen Verurteilung. Bei dieser umfassenden Prüfung müsse auch berücksichtigt werden, wie viel Zeit seit der mutmaßlichen Begehung dieser Verbrechen oder Handlungen vergangen sei und wie sich der Betroffene später verhalten habe. Dabei sei insbesondere relevant, ob sein Verhalten zeigt, dass bei ihm eine mit den Grundwerten der EU unvereinbare Haltung fortbesteht, sodass die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung gestört werden könnten.

Umfassende Abwägung erforderlich

Laut EuGH ist es zwar wenig wahrscheinlich, dass sich solche Verbrechen oder Handlungen außerhalb ihres spezifischen historisch-gesellschaftlichen Kontexts wiederholen könnten. Trotzdem könne ein Verhalten des Betroffenen, das zeige, dass bei ihm eine mit den Grundwerten der EU wie der Menschenwürde und den Menschenrechten unvereinbare Haltung fortbesteht, als solches eine ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr im Sinne der Richtlinie darstellen. Diese Bewertung erfordere eine Abwägung der Gefahr, die das persönliche Verhalten des Betroffenen für die Grundwerte der Aufnahmegesellschaft darstelle, gegen den Schutz der Rechte, die den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen nach der Richtlinie zustünden. Damit bei einer Ausweisung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werde, seien insbesondere Art und Schwere des dem Betroffenen zur Last gelegten Verhaltens, die Dauer und gegebenenfalls die Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, die seit diesem Verhalten verstrichene Zeit, sein Verhalten während dieser Zeit, der Grad seiner aktuellen Gefährlichkeit für die Gesellschaft sowie die Stärke der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen an diesen Mitgliedstaat zu berücksichtigen.

EuGH, Urteil vom 02.05.2018 - C-331/16

Redaktion beck-aktuell, 2. Mai 2018.