EuG: EU-Kommission hätte Beihilferegelung zur Einrichtung eines Kapazitätsmarkts im Vereinigten Königreich besser prüfen müssen

Der Beschluss der EU-Kommission, keine Einwände gegen die Beihilferegelung zur Einrichtung eines Kapazitätsmarkts im Vereinigten Königreich zu erheben, ist nichtig. Dies geht aus einem Urteil des Europäischen Gerichts vom 15.11.2018 hervor. Nach Auffassung des EuG hätte die Kommission Bedenken hinsichtlich bestimmter Aspekte der geplanten Beihilferegelung haben und ein förmliches Prüfverfahren eröffnen müssen, um die Vereinbarkeit der Regelung besser prüfen zu können (Az.: T-793/14, BeckRS 2018, 28553).

Vergütung für Kapazitätsanbieter

Am 23.07.2014 entschied die Kommission, keine Einwände gegen die Beihilferegelung zu erheben, weil sie mit den Vorschriften der Europäischen Union vereinbar sei. Durch die Regelung, die einen Monat zuvor am 23.06.2014 förmlich bei der Kommission angemeldet worden war, möchte das Vereinigte Königreich Kapazitätsanbietern, die sich verpflichten, bei hohen Netzbelastungen Strom zu erzeugen oder den Stromverbrauch zu senken beziehungsweise zu verschieben, eine Vergütung zahlen. Die Rechtsgrundlagen dieser Regelung finden sich im UK Energy Act 2013 (Energiegesetz des Vereinigten Königreichs von 2013) und den auf dessen Grundlage erlassenen Verordnungen.

Kapazitätsmarkt soll Versorgung sichern

Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs ist die Einrichtung eines solchen Kapazitätsmarkts erforderlich, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Es bestehe nämlich die Gefahr, dass in naher Zukunft der im Vereinigten Königreich verfügbare Strom in Zeiten hoher Nachfrage nicht mehr ausreiche. Die ältesten Kraftwerke würden bald stillgelegt, und der Strommarkt könne den Erzeugern möglicherweise nicht genügend Anreize bieten, neue Erzeugungskapazitäten aufzubauen, um diese Stilllegungen auszugleichen. Der Strommarkt biete auch den Verbrauchern nicht genügend Anreize, ihren Verbrauch zu senken, um Abhilfe zu schaffen.

Diskriminierende und unverhältnismäßige Begünstigung?

Tempus, eine Unternehmensgruppe, die Interesse am Kapazitätsmarkt hat, vertritt die Ansicht, dass die Kommission nach einer bloß vorläufigen Prüfung und in Anbetracht der bei Erlass des Beschlusses verfügbaren Informationen nicht davon habe ausgehen dürfen, dass die geplante Beihilferegelung keinen Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt gebe. Diese Regelung begünstige nämlich die Erzeugung gegenüber der Nachfragesteuerung auf eine diskriminierende und unverhältnismäßige Weise, die über das hinausgehe, was erforderlich sei, um ihre Ziele zu erreichen und den beihilferechtlichen Vorschriften zu genügen.

EuG: Kommission muss sich selbst alle relevanten Informationen verschaffen

Das EuG weist in seiner jetzt ergangenen Entscheidung zunächst darauf hin, dass die Kommission, um eine beihilferechtlich hinreichende Prüfung vornehmen zu können, nicht gehalten ist, ihre Analyse auf die in der Anmeldung der fraglichen Maßnahme enthaltenen Angaben zu beschränken. Sie sei befugt und gegebenenfalls sogar verpflichtet, sich die relevanten Informationen zu verschaffen, um beim Erlass des angefochtenen Beschlusses über Bewertungselemente zu verfügen, die vernünftigerweise als für ihre Beurteilung ausreichend und einleuchtend angesehen werden können.

Begriff der «Bedenken» ausschließliches Kriterium

Im Rahmen seines Urteils betont das EuG erstens, dass der Begriff der Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahme mit dem Binnenmarkt ein ausschließliches Kriterium darstelle. Gelinge es der Kommission nicht, die Bedenken im Sinne des Art. 4 Abs. 4 VO (EG) Nr. 659/1999, also am Ende einer vorläufigen Prüfung, die grundsätzlich zwei Monate dauern kann, auszuräumen, müsse sie das förmliche Prüfverfahren eröffnen. Ob solche Bedenken bestehen, sei anhand der Umstände des Erlasses des angefochtenen Rechtsakts sowie seines Inhalts in objektiver Weise zu beurteilen, wobei die Gründe der Entscheidung zu den Angaben in Beziehung zu setzen seien, über die die Kommission verfügen könne, wenn sie sich zur Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahme mit dem Binnenmarkt äußere.

Mehrere Indizien für Bedenken gegeben

Zweitens führt das Gericht in diesem Zusammenhang aus, dass die Dauer der Erörterungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Kommission, der Umfang des bei der vorläufigen Prüfung abgedeckten Prüfungsbereichs und die Umstände des Erlasses des angefochtenen Beschlusses Indizien dafür darstellen können, dass Bedenken bestanden. Im vorliegenden Fall handele es sich bei der angemeldeten Maßnahme um eine wichtige, komplexe und neue Maßnahme, und zwar insbesondere deshalb, weil die Kommission erstmals einen Kapazitätsmarkt zu bewerten hatte. Die Beträge, um die es bei dieser mehrjährigen Beihilferegelung über einen Zeitraum von zehn Jahren geht, seien besonders hoch, da sie zwischen 0,9 und 2,6 Milliarden Pfund Sterling (GPB) pro Jahr liegen würden. Die Regelung werde sich – sowohl unmittelbar als auch mittelbar – langfristig auf die etablierten und die neuen Erzeuger sowie die Laststeuerungsanbieter auswirken.

Dauer der vorläufigen Prüfung nicht maßgeblich

Entgegen dem Vorbringen der Kommission lasse sich daraus, dass die vorläufige Prüfung der angemeldeten Maßnahme nur einen Monat gedauert habe, nicht schließen, dass dies einen Anhaltspunkt dafür darstelle, dass am Ende dieser ersten Prüfung keine Bedenken bestanden. In der Voranmeldephase habe die Kommission dem Vereinigten Königreich nämlich eine Reihe von Fragen übermittelt, die belegten, dass sie Schwierigkeiten hatte, eine umfassende Beurteilung der anzumeldenden Maßnahme vorzunehmen. Eine Woche vor der Anmeldung der Maßnahme habe sie am 17.06.2014 dem Vereinigten Königreich eine dritte Reihe von Fragen insbesondere zur Anreizwirkung der geplanten Maßnahme, zu ihrer Verhältnismäßigkeit und zu etwaigen Diskriminierungen zwischen Kapazitätsanbietern vorgelegt. Gleichzeitig sei die Kommission informell von drei Arten von Wirtschaftsteilnehmern kontaktiert worden (einem Regelreserveanbieter, dem Laststeuerungsverband des Vereinigten Königreichs und einem Wirtschaftsteilnehmer, der vorhandene Kraftwerke erworben hatte), die ihre Bedenken hinsichtlich bestimmter, für den Kapazitätsmarkt vorgesehener Aspekte geäußert hätten. Es sei ferner nicht ersichtlich, dass die Kommission in der Voranmeldephase bezüglich der Rolle der Nachfragesteuerung auf dem Kapazitätsmarkt eine besondere Prüfung vorgenommen oder die vom Vereinigten Königreich übermittelten Informationen eigenständig beurteilt hätte.

Gericht moniert fehlende eigene Analyse

Nach Auffassung des Gerichts durfte die Kommission sich nicht auf die vom Vereinigten Königreich vorgelegten Angaben verlassen, ohne ihre eigene Bewertung vorzunehmen, um die für ihre Beurteilung relevanten Informationen zu prüfen und gegebenenfalls bei anderen Beteiligten einzuholen. Die Kommission habe sich, da sie nichts vorgetragen habe, was eine solche Prüfung belegen könnte, darauf beschränkt, vom betroffenen Mitgliedstaat Informationen anzufordern und diese zu übernehmen, ohne insoweit ihre eigene Analyse durchzuführen.

Rolle der Nachfragesteuerung auf Kapazitätsmarkt nicht zutreffend beurteilt

Drittens führte das Gericht aus, dass die Kommission die Rolle der Nachfragesteuerung auf dem Kapazitätsmarkt nicht zutreffend beurteilt habe. Das Gericht wies zunächst darauf hin, dass die Kommission sich hätte vergewissern müssen, dass die Beihilferegelung so ausgestaltet war, dass sich die Nachfragesteuerung genauso beteiligen könne wie die Erzeugung, weil die entsprechenden Kapazitäten es ermöglichen würden, das Kapazitätsproblem effizient zu beheben. In diesem Zusammenhang sollten nach Auffassung des EuG die Beihilfemaßnahmen offen sein und den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern angemessene Anreize bieten.

Potenzial der Nachfragesteuerung nicht hinreichend berücksichtigt

Das Gericht stellte außerdem fest, dass die Kommission Kenntnis von Schwierigkeiten hatte, auf die eine Gruppe technischer Sachverständiger im Zusammenhang mit der Berücksichtigung des Potenzials der Nachfragesteuerung hingewiesen hatte. Es habe die Gefahr bestanden, dass der geplante Kapazitätsmarkt das Potenzial der Nachfragesteuerung oder im weiteren Sinne das gesamte Potenzial zur Verringerung der Notwendigkeit, auf die Erzeugungskapazität zurückzugreifen, um das Kapazitätsproblem zu beheben, nicht hinreichend berücksichtigen würde. In diesem Zusammenhang, so das Gericht, habe die Kommission jedoch die Auffassung vertreten, dass es für die Beurteilung der tatsächlichen Berücksichtigung der Nachfragesteuerung – und dafür, sich nicht mehr in einer Lage zu befinden, in der sie insofern Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt haben könnte – ausreiche, die vom Vereinigten Königreich insoweit geplanten Modalitäten ohne weitere Prüfung zu akzeptieren.

Förmliche Prüfverfahren hätte eröffnet werden müssen

In Anbetracht der verfügbaren Informationen und der wichtigen Rolle, die der Nachfragesteuerung auf einem Kapazitätsmarkt zukommen könne, insbesondere um die Erforderlichkeit eines staatlichen Eingriffs so genau wie möglich zu bestimmen und die Beihilfe für die Stromerzeugung auf den angemessenen Betrag zu beschränken, hätte die Kommission Bedenken haben müssen. Insbesondere hätte sie sich nicht mit der bloßen "Offenheit" der Maßnahme begnügen und daraus auf deren technologische Neutralität schließen dürfen, ohne näher zu prüfen, ob und wie die Nachfragesteuerung auf dem Kapazitätsmarkt tatsächlich berücksichtigt wird. Die Kommission hätte deshalb feststellen müssen, dass Bedenken bestehen, die sie dazu hätten veranlassen müssen, das förmliche Prüfverfahren zu eröffnen, damit die Beteiligten ihre Stellungnahmen abgeben können und sie über die relevanten Informationen verfügt, um die Vereinbarkeit des geplanten Kapazitätsmarkts bestmöglich beurteilen zu können.

EuG, Urteil vom 15.11.2018 - T-793/14

Redaktion beck-aktuell, 16. November 2018.