BVerwG zu Abschiebungsverboten: Bei "gelebter Kernfamilie" ist für Gefahrenprognose von gemeinsamer Rückkehr auszugehen

Bei der Prüfung von Abschiebungsverboten nach nationalem Recht wegen der Verhältnisse im Herkunftsland hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für die Gefahrenprognose im Regelfall davon auszugehen, dass Eltern und die mit ihnen zusammenlebenden minderjährigen Kinder (die "gelebte" Kernfamilie) gemeinsam zurückkehren. Dies gilt auch dann, wenn einzelne Familienmitglieder bereits Abschiebungsschutz genießen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteilen vom 04.07.2019 in Änderung seiner Rechtsprechung entschieden (Az.: 1 C 45.18, 1 C 49.18 und 1 C 50.18).

Vorinstanz bejahte Abschiebungsverbot nur in Bezug auf Ehefrau und Kinder

Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste im Dezember 2015 zusammen mit seiner Ehefrau und den beiden gemeinsamen minderjährigen Kindern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie stellten einen Asylantrag, den das BAMF ablehnte. Die auf Schutzgewähr gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Der allein wegen des Begehrens auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zugelassenen Berufung gab das Oberverwaltungsgericht nur in Bezug auf die Ehefrau und die Kinder statt. Bei der gebotenen individuellen Betrachtung liege für sie ein Abschiebungsverbot vor, weil die Mutter wegen der Betreuungs- und Erziehungsaufgaben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Existenzminimum für sich und ihre Kinder nicht werde erwirtschaften können. Der Kläger indes werde als (alleinstehender) gesunder, leistungsfähiger Mann in der Lage sein, seinen Lebensunterhalt auch ohne soziales Netzwerk auf niedrigem Niveau sicherzustellen. Für die Prüfung möglicher trennungsbedingter Verstöße gegen Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis sei die Ausländerbehörde und nicht das BAMF zuständig.

BVerwG: Auch für Ehemann Abschiebungsverbot festzustellen

Das BVerwG hat das BAMF verpflichtet, auch für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. Zutreffend sei zwar der rechtliche Ansatz des OVG, dass Abschiebungsverbote für jeden Schutzsuchenden gesondert zu prüfen sind. Bei der Prognose, welche Gefahren oder Schwierigkeiten im Herkunftsland drohen, sei indes auf eine zwar hypothetische, aber realitätsnahe Rückkehrsituation abzustellen.

Bei gelebter Kernfamilie von gemeinsamem Verbleib auszugehen

Bei einer im Bundesgebiet tatsächlich "gelebten" Kernfamilie von Eltern und ihren minderjährigen Kindern sei dabei im Regelfall davon auszugehen, dass deren Mitglieder entweder nicht oder nur gemeinsam zurückkehren. Nicht zu unterstellen sei, dass der Familienverband zerrissen wird und einzelne Familienmitglieder für sich allein in das Herkunftsland zurückkehren. Dies gelte auch dann, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für diese ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist. Die bisherige Rechtsprechung, die in solchen Fällen eine Ausnahme vom Grundsatz der Rückkehr im Familienverband angenommen hatte, werde aufgegeben, unterstreicht das BVerwG.

Ähnliche Entscheidungen in Parallelverfahren

Nicht zu entscheiden gewesen sei, ob dieser Grundsatz auch dann greift, wenn eine Familientrennung ausnahmsweise mit dem besonderen Familienschutz nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK vereinbar wäre. Den Entscheidungen in den Verfahren 1 C 49.18 und 50.18 lagen laut BVerwG im Kern vergleichbare Sachverhalte und Erwägungen zugrunde.

BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18

Redaktion beck-aktuell, 5. Juli 2019.