Diskriminierung in Versorgungssatzung
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Eine Satzung, die in der Berechnung der Rentenanwartschaften die Geschlechter ungleich behandelt, verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Das gilt dem Bundesverwaltungsgericht zufolge auch für Klauseln, die die Ungleichbehandlung für Fälle fortschreiben, in denen bereits rechtskräftige Festsetzungsbescheide ergangen sind, die auf der verfassungswidrigen Formel beruhen.

370 Euro weniger als vorher

Die niedersächsische Zahnärztekammer regelte seit 1972 per Satzung die Alters-, Hinterbliebenen- und Berufsunfähigkeitsversorgung ihrer Angehörigen so, dass die weiblichen Mitglieder bei gleichen Beitragszahlungen und Eintrittsalter weniger Versorgung erhielten als ihre männlichen Kollegen. 2007 erließ das zuständige Landesministerium im Weg der Ersatzvornahme eine Änderung, die die Rentenformel geschlechtsneutral formulierte. Für alle vor 2007 beigetretenen und noch nicht in den Ruhestand gegangenen Mitglieder erließ die Behörde Festsetzungsbescheide über ihre bis 2006 ermittelte beitragsfreie Rentenanwartschaft hingegen noch nach der alten Formel. Mindestens 172 dieser Schreiben erreichten ihre Adressaten wegen fehlerhafter Anschriften nicht. Alle angefochtenen Bescheide – auch der des Klägers – wurden jedoch aufgehoben. 2018 verabschiedete die Kammerversammlung eine Satzungsänderung, die die Rentenformel auch für Beitragszeiten vor 2006 geschlechtsneutral formulierte. Eine Ausnahme gab es: Sie nahm die Zeiten jener Mitglieder davon aus, deren Festsetzungsbescheide von 2007 rechtskräftig geworden waren. Der Kläger bekam irrtümlich zunächst eine Information über die Höhe seiner Anwartschaft, der einen rechtskräftigen Festsetzungsbescheid von 2007 voraussetzte. Die korrigierte Fassung sah dann rund 370 Euro weniger Pension im Monat vor. Er erhob erfolgreich eine Normenkontrollklage zum Oberverwaltungsgericht Lüneburg. Die Zahnärztekammer wehrte sich vor dem Bundesverwaltungsgericht – vergeblich.

Wesentlich Gleiches...

Der 8. Senat des BVerwG sieht wie das OVG Lüneburg eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG in der angegriffenen Satzungsklausel. Die Regelung knüpfe verschiedene Rechtsfolgen an vergleichbare Sachverhalte – sie unterscheide lediglich zwischen Mitgliedern, die ihren Festsetzungsbescheid 2007 haben rechtskräftig werden lassen, und Mitgliedern, die keinen Bescheid erhalten haben oder ihn angefochten haben. Dieses Kriterium ist dem BVerwG zufolge in zweifacher Hinsicht willkürbehaftet: Zum einen ist es wegen Behördenfehler schon vom Zufall abhängig gewesen, ob die Festsetzungsbescheide 2007 ihre Adressaten erreicht haben. Der Kreis der Begünstigten sei insoweit schon willkürlich abgegrenzt worden. Zum zweiten sei bereits seit zehn Jahren bekannt gewesen, dass die Rentenformel vor 2007 Frauen diskriminiert habe, die Feststellungsbescheide beruhten also schon selbst auf einer Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes.

Bestandschutz ist begrenzt

Ob die rechtskräftigen und rechtswidrigen Feststellungsbescheide aufgehoben werden können oder nicht, richtet sich dem BVerwG zufolge nach den Aufhebungsnormen des Landes. Das sei nicht mittels einer abstrakt-generellen Satzung zu regeln, sondern einzelfallbezogen zu prüfen. Das Argument der Heilberufekammer, die Regelung bereits bestandskräftiger Sachverhalte verstoße gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot, überzeugte das BVerwG nicht. Der Zweck der Ausnahmeregelung, die Bestandskraft von Bescheiden zu sichern, ist nach Ansicht der Leipziger Richter zwar grundsätzlich legitim, aber wegen §§ 48 f. NdsVwVfG nicht erforderlich. Ein absoluter Bestandsschutz für Bescheide, deren Rechtswidrigkeit bei Erlass seit fast zehn Jahren bekannt war, sei unverhältnismäßig. Eine Rechtfertigung der Fortschreibung geschlechtsbezogener Diskriminierung mit dem Schutz der finanziellen Leistungsfähigkeit oder Stabilität des Versorgungssystems ist laut den Leipziger Richtern schon nach Art. 3 Abs. 2 GG verboten.

BVerwG, Urteil vom 28.06.2022 - 8 CN 1.21

Redaktion beck-aktuell, 11. Oktober 2022.