BVerfG: Zensus 2011 war verfassungskonform

Die Volkszählung 2011 war verfassungsgemäß. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 19.09.2018 entschieden und Normenkontrollklagen der Stadtstaaten Hamburg und Berlin abgewiesen. Der Methodenwechsel hin zu einer registergestützten Volkszählung sowie die nach der Gemeindegröße differenzierten Methoden zur Korrektur von Registerfehlern seien nicht zu beanstanden (Az.: 2 BvF 1/15 und 2 BvF 2/15).

Registergestützte Datenerhebung gerügt

In den Jahren 2001 bis 2003 wurde ein sogenannter Zensustest durchgeführt, mit dem die Methode eines registergestützten Zensus erprobt und weiterentwickelt wurde und aus dem die statistischen Ämter des Bundes und der Länder Empfehlungen für die Durchführung eines künftigen Zensus ableiteten. Mit dem Zensus 2011 wurde ein Methodenwechsel von einer traditionellen Volkszählung im Wege der Vollerhebung hin zu einer maßgeblich auf vorhandene Registerdaten gestützten Erhebung vorgenommen. Dieser Methodenwechsel stand im Mittelpunkt der durch die Antragsteller geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken. Gerügt wurde die Verfassungswidrigkeit der §§ 7 Abs. 1 bis 3, 8 Abs. 3, 15 Abs. 2 und 3 sowie von § 19 des Gesetzes über den registergestützten Zensus im Jahre 2011 (Zensusgesetz 2011) vom 08.07.2009 sowie § 15 des Gesetzes zur Vorbereitung eines registergestützten Zensus einschließlich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2011 (Zensusvorbereitungsgesetz 2011) vom 08.12.2007 sowie von § 2 Abs. 2 und 3 und § 3 Abs. 2 der Verordnung über Verfahren und Umfang der Haushaltsbefragung auf Stichprobenbasis zum Zensusgesetz 2011 (Stichprobenverordnung Zensusgesetz 2011) – insbesondere unter dem Aspekt der föderativen und interkommunalen Gleichbehandlung.

BVerfG: Gesetzgebungskompetenz des Bundes gegeben

Die Verfassungsbeschwerden hatten keinen Erfolg. Die angegriffenen gesetzlichen Vorschriften seien formell verfassungsgemäß. Sie seien insbesondere von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Statistik für Bundeszwecke gedeckt (Art. 73 Abs. 1 Nr. 11 GG), so das BVerfG. Eine staatliche Volkszählung durch Auswertung vorhandener Register und ergänzende Befragungen unterfalle dem verfassungsrechtlichen Statistikbegriff und diene auch Zwecken des Bundes.

Kein Verstoß gegen Wesentlichkeits- und Bestimmtheitsgebot

Laut BVerfG sind die gesetzlichen Vorschriften auch materiell mit dem Grundgesetz vereinbar. § 7 Abs. 1 bis 3 ZensG 2011 verstoße weder gegen die sich aus Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG ergebenden Anforderungen der Wesentlichkeitsdoktrin noch gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. Die verfassungsrechtliche Beurteilung von § 7 Abs. 1 bis 3 ZensG 2011, der die Grundlagen für die Haushaltsstichprobe enthalte, trage den Bedingungen eines Zensus und insbesondere dem Interesse an einer realitätsnahen Ermittlung der Einwohnerzahlen Rechnung. Vor diesem Hintergrund sei die Regelung im Hinblick auf Regelungsdichte und Bestimmtheit nicht zu beanstanden. Denn sie enthalte die wesentlichen Festlegungen für die Haushaltsstichprobe, für das Programm der Stichprobenverordnung und das Verwaltungsverfahren.

Registergestützte Verfahren grundrechtsschonender

Das BVerfG bestätigt zunächst den Methodenwechsel hin zum registergestützten Zensus. Wie das Gericht erläutert, müsse der Gesetzgeber mit Blick auf die Folgewirkungen der Einwohnerzahlen der Länder (unter anderem für den Bund-Länder-Finanzausgleich) eine hinreichend realitätsnahe Ermittlung sicherstellen, wobei der Gesetzgeber bei der Methodenwahl über einen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum verfüge. Die Verfahrensgestaltung müsse allerdings insbesondere den Anforderungen an eine "gültige" Prognose genügen. Eine klare Überlegenheit der Vollerhebung gegenüber einer registergestützten Erhebung sei nach dem gegenwärtigen Stand der statistischen Wissenschaft nicht feststellbar. Das gewählte Verfahren sei zudem mit erheblich geringeren Belastungen der Befragten verbunden. Das Unionsrecht lasse angesichts der Gleichwertigkeit von Vollerhebung und registergestütztem Zensus aus fachwissenschaftlicher Sicht den Mitgliedsstaaten im Übrigen ausdrücklich die Wahl zwischen beiden Verfahren sowie kombinierten Methoden. Vor diesem Hintergrund hätten sich zahlreiche Mitgliedstaaten ebenfalls für ein registergestütztes Verfahren entschieden.

Registergestützter Zensus beruht auf gültiger Prognose

Dem BVerfG zufolge beruht die Entscheidung für das mit dem Zensusgesetz 2011 geregelte Verfahren eines registergestützten Zensus auch auf einer gültigen Prognose. Im Anschluss an die politischen Grundsatzentscheidungen in den Jahren 1997/98 sei mit dem Zensustest eine empirische Untersuchung eines entsprechenden Modells vorgenommen worden, wobei verschiedene Verfahrenselemente sowie die Eignung der Register für eine solche Erhebung erprobt worden seien. Auf dieser Grundlage seien verschiedene Modelle verglichen und eine Empfehlung für eine Erhebungsmethode abgegeben worden, die im Wesentlichen dem letztlich Gesetz gewordenen Modell entsprochen habe. Zudem habe es eine Begleitung durch eine mit unabhängigen Fachwissenschaftlern besetzte Zensuskommission sowie zwei Sachverständigenanhörungen während des Gesetzgebungsverfahrens gegeben.

Für künftige Volkszählungen aber Erforderlichkeit von Anpassungen zu prüfen

Soweit der Gesetzgeber davon ausgegangen sei, dass sich auf die im Zensustest untersuchte Weise Daten in der erforderlichen Qualität gewinnen ließen, ist dies nach Ansicht des BVerfG nicht zu beanstanden. Sämtliche Bausteine des registergestützten Zensus – mit Ausnahme der abschließenden Verfahren zur Registerfehlerkorrektur – seien bereits im Zensustest erprobt und als grundsätzlich geeignet eingeschätzt worden. Der Gesetzgeber sei daher nicht gehalten gewesen, das vollständige Verfahren in einer weiteren, für den Verwaltungsvollzug nicht verwertbaren Testerhebung zu untersuchen. Im Nachhinein erkennbar gewordene Abweichungen von der gesetzgeberischen Prognose stellten deren Gültigkeit nicht in Frage. Die amtliche Evaluation spreche vielmehr für einen hohen Grad der Zielerreichung. Der Gesetzgeber müsse jedoch bei zukünftigen Volkszählungen die Erfahrungen mit dem verfahrensgegenständlichen Zensus 2011 berücksichtigen und die Erforderlichkeit von Anpassungen prüfen.

Nach Gemeindegröße differenzierte Korrekturmethoden gerechtfertigt

Weiter bestätigt das BVerfG, dass die Verfahren zur Korrektur von Unrichtigkeiten der Melderegisterdaten im Rahmen der Feststellung der amtlichen Einwohnerzahlen großer Gemeinden mit dem Gebot föderativer Gleichbehandlung vereinbar seien. Die Methodendifferenzierung entlang der 10.000-Einwohner-Schwelle könne sich in den Ländern aufgrund der jeweiligen Bevölkerungsstruktur zwar unterschiedlich auswirken. Die damit verbundene Ungleichbehandlung sei jedoch gerechtfertigt, weil sie aus sachlichen Gründen erfolgte und bei der gebotenen ex-ante-Betrachtung nur geringfügig war. Die Verwendung unterschiedlicher Verfahren zur Korrektur von Über- und Untererfassungen in den Melderegistern gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ZensG 2011 und § 16 ZensG 2011 erscheine vor dem Hintergrund des dem Gesetzgeber zur Verfügung stehenden Erkenntnisstandes vertretbar. Der Differenzierung habe ersichtlich die Vorstellung zugrunde gelegen, dass die Verfahren trotz unterschiedlicher Gemeindestruktur in den Ländern geeignet waren, deren Einwohnerzahlen mit zumindest vergleichbarer Genauigkeit zu bestimmen. Die Beschränkung der Haushaltsstichprobe auf Gemeinden mit mindestens 10.000 Einwohnern habe neben einer Verringerung des Verwaltungsaufwandes insbesondere die Vermeidung zusätzlicher Grundrechtseingriffe durch die geringere Zahl zu befragender Personen ermöglicht. Sachgerecht sei auch die Erwägung des Gesetzgebers, dass ein durch die Beschränkung des Stichprobenverfahrens verringerter Erhebungsumfang eine höhere Ergebnisqualität der primärstatistisch erhobenen Daten erwarten lässt. Der Gesetzgeber sei insoweit ersichtlich Einschätzungen gefolgt, die auf Erfahrungswerten der amtlichen Statistik beruhten.

Unterschiedliche Methoden bei Mehrfachfallprüfung ebenfalls vertretbar

Für die unterschiedliche Regelung der Mehrfachfallprüfung in § 15 Abs. 2 und 3 ZensG 2011 gelten laut BVerfG vergleichbare Erwägungen. Der Gesetzgeber habe die Verwendung unterschiedlicher Methoden zur Korrektur von Mehrfachfällen damit begründet, dass für Personen mit mehr als einer Hauptwohnung, die in Gemeinden mit mindestens 10.000 Einwohnern gemeldet seien, eine Überprüfung im Rahmen der Haushaltsstichprobe genügt, und habe damit im Ausgangspunkt konsequent an die Differenzierung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und § 16 ZensG 2011 angeknüpft. Er sei ersichtlich davon ausgegangen, dass dies nicht zu einer wesentlichen Verfälschung des Ergebnisses führen würde, und dass daher auf die bei Erstreckung des Verfahrens nach § 15 Abs. 3 ZensG 2011 auf die größeren Gemeinden erforderlichen zusätzlichen Befragungen verzichtet werden könne. Das sei nicht zu beanstanden. Dem Gesetzgeber habe nach den Ergebnissen des Zensustests vor Augen gestanden, dass für die Gemeinden unterhalb der 10.000-Einwohner-Schwelle im Wesentlichen das dort erprobte Verfahren verwendet werden konnte, während für die größeren Gemeinden eine umfassende Fehlerkorrektur im Stichprobenverfahren erfolgen musste. Die Bewertung des Zensustests habe insbesondere auch ergeben, dass der weitaus größte Teil der in der Mehrfachfallprüfung auffällig gewordenen Fälle ohne Rückfragen geklärt werden konnte. Die Evaluation des Zensus 2011 habe diese Einschätzung bestätigt.

Einwohner-Schwelle für Methodendifferenzierung nicht zu beanstanden

Das BVerfG lässt auch die Festlegung der Schwelle für die Methodendifferenzierung unbeanstandet. Sie beruhe auf sachlichen Erwägungen. Der Zensustest habe Registerfehlerquoten für Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern, für Gemeinden zwischen 10.000 und 50.000 Einwohnern, für Gemeinden zwischen 50.000 und 800.000 Einwohnern sowie für Gemeinden mit mehr als 800.000 Einwohnern ermittelt. Auf dieser Grundlage hätten die statistischen Ämter des Bundes und der Länder die Ergänzung des registergestützten Zensus um Stichprobenerhebungen in Gemeinden ab 10.000 Einwohnern empfohlen. Dies habe auf der – im Zensustest festgestellten – Korrelation zwischen Gemeindegröße und (unbereinigten) Registerfehlerquoten sowie auf der Erwägung beruht, dass sich eine Stichprobenerhebung bei abnehmender Gemeindegröße immer mehr einer Totalerhebung annähern muss, um hinreichend genaue Ergebnisse liefern zu können. Zudem sei die Methode der Individualbefragungen jenseits der Grenze von 10.000 Einwohnern als ungeeignet eingeschätzt worden.

Strukturelles Vollzugsdefizit nicht erkennbar

Anhaltspunkte für ein strukturelles Vollzugsdefizit kann das BVerfG nicht erkennen. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die Länder in Konzeption und Vollzug des Zensus 2011 über ihre Statistikbehörden eng eingebunden waren. Den Ländern, in deren Händen der Vollzug im Wesentlichen gelegen habe, hätten von Anfang an ausreichende Kontroll- und Mitwirkungsmöglichkeiten zu Gebote gestanden, um ihre Interessen an einem ordnungsgemäßen Vollzug zu wahren. Sie hätten insbesondere die Kontrolle über alle erforderlichen Befragungen und primärstatistischen Erhebungen gehabt. Außerhalb des Verantwortungsbereichs der Länder liegende Kontrolllücken seien allenfalls mit Blick auf die zentralisierten Vorgänge denkbar. Es sei jedoch weder ersichtlich, dass die Statistikbehörden der Länder insofern Zweifel an der Nachvollziehbarkeit der Verfahrensschritte geäußert hätten, noch, dass entsprechende Nachfragen nicht innerhalb des Bereichs der amtlichen Statistik hätten geklärt werden können.

Kein Verstoß gegen Recht auf informationelle Selbstbestimmung

Laut BVerfG verstoßen die angegriffenen Vorschriften auch nicht gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Nr. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG). Das Zensusgesetz 2011 ermächtige zu Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Diese seien geeignet, erforderlich und den Auskunftsverpflichteten zumutbar gewesen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass für die Aussagekraft der amtlichen Statistik ein möglichst hoher Grad an Genauigkeit der erhobenen Daten erforderlich ist. Das gewählte Stichprobenverfahren habe auf der einen Seite den erforderlichen Grad an Genauigkeit garantiert, auf der anderen Seite aber auch Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung auf ein möglichst geringes Maß begrenzt.

Löschungsvorschriften mit Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar

Das BVerfG sieht durch die angegriffenen Vorschriften auch keine verfassungsrechtlich geschützten Rechtsschutzinteressen der Länder oder Kommunen verletzt. Soweit das Grundgesetz für den Bund eine Pflicht zur realitätsgerechten Ermittlung der Bevölkerungszahlen enthalte, folge aus dem Bundesstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG zumindest ein Anspruch der Länder auf föderative Gleichbehandlung durch den Bundesgesetzgeber. Ein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch lasse sich aus Art. 20 Abs. 1 GG jedoch nicht ableiten. Fehler in der Durchführung des Zensus 2011 seien daher grundsätzlich nicht geeignet, das Recht der Länder auf föderative Gleichbehandlung zu beeinträchtigen. Allein den Vollzug und seine Kontrolle aber beträfen die angegriffenen Löschungsvorschriften der § 8 Abs. 3, § 19 Abs. 1 und 2 ZensG 2011 und § 15 ZensVorbG 2011. Weitergehender Rechtsschutzmöglichkeiten bedürfe es nicht. Dass den Ländern grundsätzlich kein fachgerichtlicher Rechtsschutz gegen die Feststellung ihrer Einwohnerzahl zur Verfügung stehe, sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Die Feststellung der Einwohnerzahlen sei durch Behörden der Länder erfolgt. Es habe im Rahmen ihrer Zuständigkeiten daher zu ihren Aufgaben gehört, bei der Erhebung Rechtmäßigkeit und Einheitlichkeit des Vollzugs sicherzustellen.

Kommunale Selbstverwaltungsgarantie durch Löschungsregelungen ebenfalls nicht verletzt

Die angegriffenen Löschungsregelungen verstießen auch nicht gegen Art. 28 Abs. 2 GG, so das BVerfG weiter. Soweit es sich – wie bei den Antragstellern – um Stadtstaaten handele, seien sie nicht Träger der Garantie kommunaler Selbstverwaltung. Ihre Stellung als Kommunen werde in dem vorliegend allein maßgeblichen Rechtsverhältnis zum Bund durch ihren staatsrechtlichen Status als Länder vollständig überlagert. Die anderen Kommunen würden in ihrer durch Art. 28 Abs. 2 GG geschützten Rechtsstellung nicht beeinträchtigt. Das Zensusgesetz 2011 regele weder die Rechtsverhältnisse der Kommunen zum Bund noch zu den Ländern. Insofern könnten auch die hier in Rede stehenden Löschungsvorschriften keine Auswirkungen auf die subjektive Rechtsstellungsgarantie der Kommunen haben.

Vorschriften der Stichprobenverordnung ebenfalls verfassungskonform

Schließlich genügten § 2 Abs. 2 und 3 und § 3 Abs. 2 StichprobenV den für sie geltenden verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Vorschriften der Stichprobenverordnung entsprächen den Vorgaben der Ermächtigungsgrundlage und beinhalteten keine unzulässige Subdelegation an die Verwaltung oder Private. § 2 Abs. 2 StichprobenV verstoße schließlich auch nicht gegen das aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Gebot der Klarheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung (Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG).

BVerfG, Urteil vom 19.09.2018 - 2 BvF 1/15

Redaktion beck-aktuell, 19. September 2018.