BVerfG: Strafbarkeit als "faktischer Leiter" einer nicht angemeldeten Versammlung verfassungskonform

Eine Auslegung des § 26 Nr. 2 VersammlG, wonach auch der "faktische Leiter" einer nicht angemeldeten Versammlung strafbar ist, verstößt weder gegen das strafrechtliche Analogieverbot noch gegen das Schuldprinzip und ist bei restriktiver Auslegung dieser Rechtsfigur auch mit der Versammlungsfreiheit vereinbar. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss 09.07.2019 entschieden und eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (Az.: 1 BvR 1257/19).

Unangemeldete Anti-Atom-Demo durchgeführt

Nach den fachgerichtlichen Feststellungen organisierte der Beschwerdeführer am 11.02.2017 eine Demonstrationsveranstaltung auf einer Brücke, an der vier weitere Aktivisten der Anti-Atom-Bewegung mitwirkten. Im Rahmen der Veranstaltung seilten sich zwei Personen unter Zuhilfenahme eigens mitgebrachter Kletterausrüstung von der Brücke ab und spannten ein schwarzes, beschriftetes Banner auf, wobei sie vom Beschwerdeführer unterstützt wurden und dessen per Funk gegebenen Anweisungen folgten. Nach Aufforderung durch den Beschwerdeführer rollten beide Kletterer das Banner unverzüglich ein und seilten sich auf. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts waren die teilnehmenden Personen aus verschiedenen Orten angereist, hatten das Banner und die Kletterausrüstung bereits mitgeführt und die Presse vorab von der Veranstaltung informiert, eine Anmeldung der Versammlung aber unterlassen.

Fachgerichte qualifizierten Beschwerdeführer als "faktischen" Versammlungsleiter

Das AG sprach den Beschwerdeführer wegen der Durchführung einer nicht angemeldeten öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel (§ 26 Nr. 2 VersammlG) schuldig und sprach eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aus, da der Beschwerdeführer die Herrschaft über den äußeren Gang und die Ordnung der Versammlung innegehabt habe und somit als faktischer Versammlungsleiter zu qualifizieren gewesen sei. Die Sprungrevision zum Oberlandesgericht blieb erfolglos.

Beschwerdeführer sieht Verstoß gegen Verfassungsrecht

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung der Versammlungsfreiheit, des strafrechtlichen Analogieverbotes und des Schuldprinzips, da die unterlassene Anmeldung nach der Konzeption des Versammlungsgesetzes nur dem Veranstalter der Versammlung entgegengehalten werden könne. Der "faktische Leiter" sei rechtlich weder zur Anmeldung der Versammlung noch zur Ausübung von Leitungsbefugnissen befugt.

BVerfG: Einstufung des "faktischen Leiters" als tauglicher Täter kein Verstoß gegen Analogieverbot

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Die Entscheidung des AG und des OLG, auch den "faktischen Leiter" einer nicht angemeldeten Versammlung als tauglichen Täter nach § 26 Nr. 2 VersammlG anzusehen, verstoße nicht gegen das strafrechtliche Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG). § 26 VersammlG verwende mit dem Tatbestandsmerkmal des "Leiters" einen auslegungsfähigen Rechtsbegriff, den die Norm selbst nicht definiere. Die Frage, ob neben dem "Veranstalter" nur der förmlich im Rahmen der Anmeldung bestimmte "Leiter" als potentieller Täter des § 26 Nr. 2 VersammlG angesehen werden könne oder ob die herausgehobene Stellung eines Leiters innerhalb des Versammlungsgeschehens auch durch das konkludente Verhalten einzelner oder mehrerer Versammlungsteilnehmer begründet werden könne, sei von den Fachgerichten im Rahmen ihres gesetzlichen Auslegungsspielraums zu beantworten.

Begriff nicht auf förmlichen Leiter beschränkt

Als Norm des Nebenstrafrechts lasse sich § 26 VersammlG zwar nicht ohne Rückgriff auf die verwaltungsrechtlichen Bestimmungen des Versammlungsgesetzes verstehen. Den maßgeblichen Vorschriften kann laut BVerfG eine Einschränkung des Begriffes des Leiters auf den förmlich benannten Leiter aber nicht entnommen werden. Vielmehr lege es der Wortlaut des § 26 Nr. 2 VersammlG nahe, als Leiter im Sinne der Bestimmung auch denjenigen anzusehen, der die Rolle des Versammlungsleiters tatsächlich ausfülle. Denn die Norm begründe ausdrücklich eine Strafbarkeit nicht nur des Veranstalters, sondern auch des Leiters von Versammlungen oder Aufzügen, die ohne die erforderliche Anmeldung durchgeführt würden. Schließlich modifiziere diese Auslegung auch nicht den Strafzweck des § 26 Nr. 2 VersammlG, da die Bestimmung nicht die unterlassene Versammlungsanmeldung, sondern die Durchführung einer Versammlung ohne die erforderliche Anmeldung sanktioniere.

Schuldprinzip ebenfalls nicht verletzt

Die Auslegung verstoße auch nicht gegen das Schuldprinzip, so das BVerfG weiter. Denn die Strafbarkeit knüpfe nicht allein an die unterlassene Anmeldung der Versammlung an, die dem Leiter der Versammlung gegebenenfalls nicht vorgeworfen werden könnte, sondern stelle erst die Durchführung einer unangemeldeten Versammlung unter Strafe. Insoweit stehe es jedoch jedem Teilnehmer einer Versammlung frei, an dieser nicht in leitender Funktion mitzuwirken.

Auslegung auch mit Versammlungsfreiheit vereinbar

Weiter führt das BVerfG aus, dass die Anmeldepflicht des § 14 Abs. 1 VersammlG bei verfassungskonformer Auslegung ebenso mit Art. 8 Abs. 1 GG vereinbar sei wie die Strafnorm des § 26 Nr. 2 VersammlG. Auch eine Auslegung des § 26 Nr. 2 VersammlG, die den faktischen Leiter einer nicht angemeldeten Versammlung erfasse, stehe mit Art. 8 Abs. 1 GG im Einklang. Denn die von den Gerichten gewählte Auslegung sei geeignet, einer Umgehung der Anmeldepflicht entgegenzuwirken. Denn andernfalls könnte deren Verletzung nur gegenüber dem Veranstalter sanktioniert werden, der gerade bei nicht angemeldeten Versammlungen oftmals nicht festgestellt werden könne. Die Auslegung verwirkliche somit die legitimen Ziele des gesetzlichen Anmeldeerfordernisses, ohne die Versammlungsfreiheit in übermäßiger Weise einzuschränken.

Restriktive Auslegung schließt Sanktionierung der bloßen Teilnahme aus

Das BVerfG unterstreicht, dass die Auslegung insbesondere nicht die Gefahr einer Sanktionierung der bloßen Teilnahme an einer nicht angemeldeten Versammlung berge, da sie voraussetze, dass die Eigenschaft als "faktischer" Versammlungsleiter durch eindeutige Tatsachen erkennbar wird. Anhaltspunkte böten dabei die Funktionen, die Leiter angemeldeter Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz ausübten. Als Leiter einer Spontanversammlung sei daher nach der Rechtsprechung namentlich anzusehen, wer den Ablauf der Versammlung, die Reihenfolge der Redner und schließlich auch die Unterbrechung oder Schließung der Versammlung bestimme, wobei es darauf ankomme, dass der Leiter diese Funktionen übernommen habe und die Teilnehmer mit deren Ausübung durch ihn einverstanden seien.

BVerfG, Beschluss vom 09.07.2019 - 1 BvR 1257/19

Redaktion beck-aktuell, 16. August 2019.