BVerfG: OLG Dresden muss über Auslieferung eines Tschetschenen nach Russland neu entscheiden – Gefahr politischer Verfolgung ungenügend aufgeklärt

Gerichte verletzen in Auslieferungssachen das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie bei entsprechenden Anhaltspunkten nicht hinreichend aufklären und eigenständig prüfen, ob im Fall der Auslieferung politische Verfolgung droht. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 13.11.2017 entschieden. Weil das Oberlandesgericht Dresden dieser Pflicht nicht ausreichend nachgekommen sei, müsse es nun über die Zulässigkeit der Auslieferung eines Tschetschenen nach Russland neu entscheiden (Az.: 2 BvR 1381/17).

Tschetschenischem Beschwerdeführer wird versuchtes Tötungsdelikt in Tschetschenien vorgeworfen

Dem Beschwerdeführer, einem russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft, wird in seiner Heimat vorgeworfen, versucht zu haben, die Geschädigte einer Sexualstraftat nach seiner Entlassung aus der deswegen verbüßten Haft zu töten. Er bezeichnet sowohl den Vorwurf der Sexualstraftat als auch denjenigen des versuchten Tötungsdelikts als falsche Anschuldigungen, mit denen er unter Druck gesetzt werden solle, damit er Angaben zu ihm bekannten Aufständischen macht.

Asylanträge erst in Polen, dann in Deutschland abgelehnt

Die 2015 durch den Beschwerdeführer und seine Familie in Polen gestellten Asylanträge wurden abgelehnt. Gegen die im Widerspruchsverfahren ergangenen Bescheide klagte er, reiste aber mit seiner Familie 2016 ohne eine Entscheidung abzuwarten nach Deutschland weiter, wo sie erneut Asyl beantragten. Die Anträge wurden als unzulässig abgelehnt, weil Polen aufgrund der dort gestellten Asylanträge für die Durchführung der Asylverfahren zuständig sei. Zudem wurde die Abschiebung nach Polen angeordnet.

Beschwerdeführer in Auslieferungshaft

Das Verwaltungsgericht wies die gegen die Ablehnung der Asylanträge erhobenen Klagen ab. Dagegen beantragte der Beschwerdeführer die Zulassung der Berufung, über die bislang nicht entschieden wurde. Zwischenzeitlich wurde er aufgrund des ihm vorgeworfenen versuchten Tötungsdelikts durch russische Behörden international zur Fahndung ausgeschrieben und Ende 2016 in Leipzig festgenommen. Seither befindet er sich in Haft.

OLG erklärte Auslieferung für zulässig – Verfahrensakten aus polnischem Asylverfahren nicht beigezogen

Im Auslieferungsverfahren hatte das OLG Dresden die Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert, die Umstände der Asylantragstellung in Polen und die von dem Beschwerdeführer vor polnischen Behörden gemachten Angaben aufzuklären und die bereits getroffenen Asylentscheidungen beizuziehen. Anfang April 2017 erklärte das OLG unter Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft die Auslieferung für zulässig. Verfahrensakten aus dem polnischen Asylverfahren wurden im Ergebnis nicht beigezogen.

Drohende politische Verfolgung ohne eigene Sachprüfung verneint

Es lag lediglich der Ausdruck einer E-Mail einer polnischen Verbindungsbeamtin vor, der zufolge der in Polen beantragte Flüchtlingsschutz im Ergebnis nicht gewährt worden war. Auf dieser Grundlage ging das OLG ohne eigene Sachprüfung davon aus, dass das Auslieferungshindernis der drohenden politischen Verfolgung im Zielstaat der Auslieferung des Beschwerdeführers nicht entgegenstehe. Der Beschwerdeführer beantragte beim OLG erfolglos die erneute Zulässigkeitsentscheidung gemäß § 33 Abs. 1 IRG. Gegen die beiden Entscheidungen des OLG richtete sich die Verfassungsbeschwerde.

BVerfG: OLG hätte Gefahr politischer Verfolgung eigenständig prüfen und hinreichend aufklären müssen

Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Das OLG muss über die Zulässigkeit der Auslieferung neu entscheiden. Die angegriffenen Entscheidungen verstießen gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verpflichte die Gerichte auch im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung, den Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig zu prüfen. Dies gelte auch für die Frage, ob der Auszuliefernde Gefahr laufe, im Zielstaat Opfer politischer Verfolgung zu werden. Das OLG habe aber die Gefahr des Beschwerdeführers, im Zielstaat politisch verfolgt zu werden, nicht hinreichend aufgeklärt und nicht eigenständig geprüft.

Auslieferung trotz Gefahr politischer Verfolgung wäre grundrechtswidrig

Zweck der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung sei der präventive Rechtsschutz des Verfolgten, erläutert das BVerfG. Das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren und die Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat dienten der Abwehr staatlicher Eingriffe in grundrechtlich geschützte Interessen des Auszuliefernden. Werde eine Auslieferung vollzogen, obwohl die Gefahr bestehe, dass der Betroffene im Zielstaat politisch verfolgt wird, verstoße die Auslieferung jedenfalls gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG. Auslegung und Anwendung auslieferungsrechtlicher Regelungen durch die Oberlandesgerichte hätten dem Rechnung zu tragen und eine wirksame gerichtliche Kontrolle sicherzustellen. Auch wenn im konkreten Fall aus Art. 16a Abs. 1 GG kein Asylanspruch in Deutschland folge, müsse der Grundgedanke dieser Norm, Schutz vor politischer Verfolgung im Zielstaat zu bieten, dabei berücksichtigt werden. Soweit ernstliche Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung im Zielstaat sprächen, habe das Gericht die beantragte Auslieferung demnach für unzulässig zu erklären.

Akten ausländischen Asylverfahrens wenn möglich beizuziehen

Ob die Voraussetzungen dieses Auslieferungshindernisses vorliegen, müsse das Gericht eigenständig prüfen, unterstreicht das BVerfG. Um Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gerecht zu werden, müssten die Gerichte bei Anhaltspunkten einer Gefahr politischer Verfolgung die ihnen möglichen Ermittlungen zur Aufklärung veranlassen und den Sachverhalt eigenständig würdigen. Sie müssten ernsthaft versuchen, die Akten eines ausländischen Asylverfahrens beizuziehen, es sei denn, es stehe fest, dass sich daraus keine neuen Erkenntnisse ergeben. Dadurch könne sichergestellt werden, dass der Vortrag des Asylbewerbers und alle bereits erfolgten Sachverhaltsermittlungen zu einer Gefahr politischer Verfolgung berücksichtigt sowie gegebenenfalls Widersprüche aufgeklärt und Vorhalte gemacht werden können. Soweit die Verfahrensakten nicht erreichbar seien, müsse das Gericht dies in der Zulässigkeitsentscheidung darlegen. Seiner Pflicht zur eigenständigen Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung müsse es in einem solchen Fall durch anderweitige Aufklärungsschritte, in der Regel durch die persönliche Anhörung des Betroffenen, genügen.

OLG hätte Beschwerdeführer jedenfalls persönlich anhören müssen

Laut BVerfG ist das OLG dieser Verpflichtung zur umfassenden Aufklärung und eigenständigen Prüfung nicht nachgekommen. Es habe seine Entscheidung, ohne die in Polen angefragten Informationen erlangt oder den Beschwerdeführer persönlich angehört zu haben, allein auf die per E-Mail weitergegebene Auskunft einer polnischen Verbindungsbeamtin gestützt, das auf den Antrag auf Flüchtlingsschutz in Polen folgende "Verfahren" sei "vollständig abgelehnt" worden. Selbst wenn das Verhalten des Gerichts im Verfahren als ernsthafter Versuch der Beiziehung der polnischen Verfahrensakten zu bewerten wäre, hätte das Gericht die Gefahr politischer Verfolgung durch persönliche Anhörung des Beschwerdeführers und eigenständige Würdigung von dessen Angaben aufklären müssen, um Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu genügen.

Völkerrechtliche Zusicherung entbindet nicht von eigener Gefahrenprognose

Diese Pflicht zur Sachaufklärung und eigenständigen Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat  bestehe unabhängig von einer im polnischen Asylverfahren möglicherweise erfolgten Prüfung, so das BVerfG. Eine eigenständige Prüfung habe auch nicht deshalb unterbleiben dürfen, weil die Russische Föderation zugesichert hat, dass das Auslieferungsersuchen nicht dem Zweck der Verfolgung wegen Rasse, Religion, Volkszugehörigkeit oder politischer Überzeugung diene und der Beschwerdeführer nur wegen derjenigen Straftat strafrechtlich verfolgt werde, derentwegen um Auslieferung ersucht werde. Eine solche völkerrechtliche Zusicherung entbinde das Gericht nicht von der Pflicht, eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, wenn Anhaltspunkte für die Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat bestehen. Dabei müsse das Gericht den Vortrag des Beschwerdeführers nachvollziehbar und willkürfrei würdigen, auch wenn es ihm im Ergebnis keinen Glauben zu schenken vermag.

BVerfG, Beschluss vom 13.11.2017 - 2 BvR 1381/17

Redaktion beck-aktuell, 22. November 2017.