Gegenseite auch in lauterkeitsrechtlichen Eilverfahren grundsätzlich anzuhören

Die im presse- und äußerungsrechtlichen Eilverfahren geltenden Anforderungen an die prozessuale Waffengleichheit gelten auch in lauterkeitsrechtlichen Eilverfahren. Dies hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt. Bei Inkongruenz zwischen Abmahnung und Eilantrag müsse die Gegenseite daher im Verfahren gehört werden. Allerdings könne ein hinreichend gewichtiges Interesse an der Feststellung eines Verstoßes fehlen.

Dentaldienstleisterin abgemahnt

Die Beschwerdeführerin bietet Dentalleistungen. Sie versendet an ihre Kunden insbesondere Sets, mit denen diese zu Hause einen Abdruck sowie Fotos von ihrem Gebiss machen können, um daraus individuelle Schienen zur Zahnkorrektur anzufertigen. Die Antragstellerin des lauterkeitsrechtlichen Eilverfahrens erwarb ein solches Abdruckset im Rahmen eines Testkaufs. Anschließend mahnte sie die Beschwerdeführerin ab und nahm diese auf Unterlassung in Anspruch, weil angeblich die "CE"-Kennzeichnung fehlte.

Einstweilige Verfügung ohne vorherige Anhörung

Die Antragstellerin beantragte schließlich beim Landgericht den Erlass einer Unterlassungsverfügung. Auf Bedenken des Gerichts bezüglich Antragsfassung und Glaubhaftmachung hin ergänzte die Antragstellerin ihren Antrag und erwirkte den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Die Beschwerdeführerin war zuvor nicht an dem gerichtlichen Verfahren beteiligt worden. Sie erhob Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung und stellte einen Vollstreckungsschutzantrag. Den Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung wies das Landgericht zurück.

BVerfG: Zwar zweifacher Verstoß gegen prozessuale Waffengleichheit

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Es moniert zwar zwei Verstöße gegen den Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit: Zum einen hätte die Beschwerdeführerin vor Erlass der einstweiligen Verfügung gehört werden müssen. Denn das Unterlassungsbegehren aus der Abmahnung und der nachfolgend gestellte Verfügungsantrag seien nicht identisch. Nur bei wortlautgleicher Identität sei aber gewährleistet, dass sich der Antragsgegner ausreichend äußern konnte. Zum anderen habe das LG einen gerichtlichen Hinweis an die Antragstellerseite erteilt, ohne die Beschwerdeführerin davon in Kenntnis zu setzen. Es sei aber verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller. Deshalb seien auch ihm die richterlichen Hinweise zeitnah mitzuteilen, insbesondere dann, wenn es darum geht, einen Antrag nachzubessern oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten abzugeben.

Abweichungen von Abmahnung aber nur gering

Laut BVerfG fehlt es allerdings an einem hinreichend gewichtigen Interesse an der Feststellung dieser Verfahrensverstöße. Der Eilantrag und die nachgebesserte Antragsfassung wichen nur gering von dem außergerichtlich geltend gemachten Unterlassungsverlangen ab. Dabei rekurriert das BVerfG auf die im Lauterkeitsrecht entwickelte "Kerntheorie". Danach umfasst der Schutz eines Unterlassungsgebots nicht nur verbotsidentische Verletzungsfälle, sondern auch gleichwertige Verletzungen, die den Verletzungskern unberührt lassen. Die Kerntheorie sei verfassungsrechtlich im Grundsatz unbedenklich, so die Richter. Sie diene der effektiven Durchsetzung von Unterlassungsansprüchen. Diese wäre wesentlich erschwert, wenn der Unterlassungstitel nur in den Fällen als verletzt gölte, in denen die Verletzungshandlung dem Wortlaut des Titels genau entspreche.

Abmahnungserwiderung hätte auch kerngleiche Verstöße umfassen müssen

Es sei dem Antragsgegner grundsätzlich zumutbar, im Erwiderungsschreiben auf eine außergerichtliche Abmahnung auch zu kerngleichen, nicht-identischen Verstößen Stellung zu nehmen. Eine Grenze sei dort zu ziehen, wo der gerichtliche Verfügungsantrag den im Rahmen der außergerichtlichen Abmahnung geltend gemachten Streitgegenstand verlasse oder weitere Streitgegenstände neu einführe. Hier habe sich die Beschwerdeführerin zudem aufgrund der außergerichtlich gewählten Formulierung bewusst sein müssen, umfassend auch zu kerngleichen Verstößen zu erwidern.

Kein schwerer Nachteil dargelegt – baldige mündliche Verhandlung

Außerdem fehle es an der Darlegung eines schweren Nachteils, der durch die Schadensersatzpflicht nach § 945 ZPO nicht aufgefangen werden könnte. Dem Schutz des Antragsgegners im einstweiligen Verfügungsverfahren werde durch die Schadensersatzpflicht gemäß § 945 ZPO hinreichend Rechnung getragen. Komme es infolge der Vollziehung zu Schäden beim Antragsgegner, seien diese vom Antragsteller verschuldensunabhängig zu ersetzen. Ein irreparabler Schaden der Beschwerdeführerin sei nicht ersichtlich. Zudem stelle sich die Terminierung der Verhandlung über den Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung noch als ausreichend zeitnah dar, um eine zügige Verfahrensführung zu gewährleisten und der Beschwerdeführerin eine umfassende Äußerung in der Sache zu ermöglichen.

BVerfG, Beschluss vom 27.07.2020 - 1 BvR 1379/20

Redaktion beck-aktuell, 31. Juli 2020.