BVerfG: Fälschliche Einordnung prozessualer Äußerung als Schmähkritik verletzt Meinungsfreiheit

Die unzutreffende Einordnung in einem Zivilprozess getroffener Äußerungen als Schmähkritik stellt eine Verletzung der Meinungsfreiheit dar.  Die Meinungsfreiheit eines Klägers darf nicht auf das zur Begründung seiner Rechtsansicht Erforderliche beschränkt werden. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 23.07.2019 entschieden und damit der Verfassungsbeschwerde eines wegen Beleidigung Verurteilten stattgegeben, der die Verhandlungsführung einer Amtsrichterin mit nationalsozialistischen Sondergerichten und Hexenprozessen verglichen hatte (Az.: 1 BvR 2433/17).

AG verurteilte Zivilprozesskläger wegen "beleidigender" Äußerungen

Der Beschwerdeführer war Kläger eines amtsgerichtlichen Zivilprozesses. Im Rahmen eines Ablehnungsgesuchs schilderte er seinen Eindruck, die Richterin habe einen vom Beklagten benannten Zeugen einseitig zu seinen Lasten vernommen und diesem die von ihr erwünschten Antworten gleichsam in den Mund gelegt. Er führte weiter aus, "die Art und Weise der Beeinflussung der Zeugen und der Verhandlungsführung durch die Richterin sowie der Versuch, den Kläger von der Verhandlung auszuschließen" erinnerten stark an "einschlägige Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten". Die gesamte Verhandlungsführung der Richterin habe "eher an einen mittelalterlichen Hexenprozess als an ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführtes Verfahren" erinnert. Wegen der Äußerungen verurteilte ihn das Amtsgericht zu einer Geldstrafe. Berufung, Revision und Anhörungsrüge des Beschwerdeführers blieben erfolglos.

BVerfG gibt Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Meinungsfreiheit statt

Das Bundesverfassungsgericht hat der dagegen erhobenen Verfassungsbeschwerde stattgegeben. Die Entscheidungen der Gerichte verletzten den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Bei einem in Frage kommenden Äußerungsdelikt verlange Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits drohe. Das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, gehöre zum Kernbereich der Meinungsfreiheit, weshalb deren Gewicht besonders hoch zu veranschlagen sei. Sie erlaube es insbesondere nicht, den Beschwerdeführer auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihm damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.

Strenge Anforderungen an Schmähkritik

Einen Sonderfall bei der Auslegung und Anwendung der §§ 185 ff. StGB bildeten herabsetzende Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Dann sei ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurücktreten werde. Diese für die Meinungsfreiheit einschneidende Folge gebiete es aber, hinsichtlich des Vorliegens von Formalbeleidigungen und Schmähkritik strenge und eigenständige Maßstäbe anzuwenden.

Keine Schmähkritik bei Bezug zu Sachauseinandersetzung

Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik und der damit begründete Verzicht auf eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehre richteten sich nach dem Kriterium des sachlichen Bezugs. Solange ein Bezug zu einer Sachauseinandersetzung bestehe und sich die Äußerungen damit nicht - wie etwa im Fall der Privatfehde - auf eine bloße persönliche Diffamierung oder Herabsetzung der von der Äußerung Betroffenen beschränken, seien sie nicht als Schmähung einzustufen, sondern könnten nur nach Maßgabe einer umfassenden und einzelfallbezogenen Abwägung mit der Meinungsfreiheit als Beleidigung bestraft werden. Ob ein solcher sachlicher Bezug gegeben sei, müsse unter Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung ermittelt werden.

Äußerungen des Klägers standen im prozessualen Sachzusammenhang

Diesen Maßstäben genügten die Entscheidungen nicht. Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit wären schon dann verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft würde mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnehme wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen seien. Vorliegend würden die inkriminierten Äußerungen keine Schmähkritik darstellen. Mit seinen Vergleichen hätte sich der Beschwerdeführer gegen die Verhandlungsführung der Richterin in dem von ihm betriebenen Zivilverfahren gerichtet und damit sein Befangenheitsgesuch begründet. Die Äußerungen entbehrten daher insofern nicht eines sachlichen Bezugs.

NS-Vergleiche und Vorwurf "mittelalterlicher" Gesinnung per se noch keine Schmähung

Sie ließen sich wegen der auf die Verhandlungsführung und nicht auf die Richterin als Person gerichteten Formulierungen nicht sinnerhaltend aus diesem Kontext lösen und würden daher keine bloße Herabsetzung der Betroffenen darstellen. Historische Vergleiche mit dem Nationalsozialismus oder Vorwürfe einer "mittelalterlichen" Gesinnung könnten besonderes Gewicht im Rahmen der Abwägung haben, begründeten aber nicht schon für sich besehen die Annahme des Vorliegens von Schmähkritik.

Meinungsfreiheit nicht auf das zur Begründung der Rechtsansicht Erforderliche beschränkt

Indem die Instanzgerichte geltend gemacht hätten, dass die gewählten Formulierungen für die Verteidigung der Rechtsansichten nicht erforderlich gewesen seien, knüpften sie an ein unzutreffendes Verständnis des Begriffs der "Schmähung" als Ehrbeeinträchtigung an, die durch die Sache nicht mehr geboten sei. Damit sei verkannt worden, dass der Beschwerdeführer unter Berücksichtigung seiner Meinungsfreiheit nicht auf das zur Begründung seiner Rechtsansicht Erforderliche beschränkt werden dürfe.

BVerfG, Beschluss vom 23.07.2019 - 1 BvR 2433/17

Redaktion beck-aktuell, 23. Juli 2019.