BVerfG: Auskünfte zu V-Leute-Einsatz in Zusammenhang mit Oktoberfestattentat teils zu Unrecht verweigert

Die Bundesregierung hat die Bundestagsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke sowie den Deutschen Bundestag teilweise in ihren Rechten verletzt, indem sie unter Berufung auf das Staatswohl und die Grundrechte verdeckt handelnder Personen die vollständige Beantwortung von Anfragen zu nachrichtendienstlichen Erkenntnissen zum Oktoberfestattentat verweigert hat. Dies hat das Bundeverfassungsgericht mit Beschluss vom 13.06.2017 entschieden (Az.: 2 BvE 1/15).

Bundesregierung beantwortete Kleine Anfragen zum Oktoberfestattentat nur unvollständig

Am 26.09.1980 explodierte am Haupteingang des Münchner Oktoberfests ein Sprengsatz. Nachdem der Generalbundesanwalt seine Ermittlungen zu dem Attentat 1982 abgeschlossen hatte, blieb insbesondere die Rolle von Karl-Heinz Hoffmann, des Gründers der "Wehrsportgruppe Hoffmann", und von Heinz Lembke, einem "Milizionär" und "Wehrsportler", der sich 1981 in Untersuchungshaft erhängte, ungeklärt. Im Dezember 2014 nahm der Generalbundesanwalt die Ermittlungen zum Oktoberfestattentat wieder auf, nachdem sich eine bis dahin unbekannte Zeugin gemeldet hatte. Die Bundestagsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke machen die unvollständige Beantwortung zweier Kleiner Anfragen zu Erkenntnissen der Nachrichtendienste über das Attentat auf das Münchner Oktoberfest und einer diesbezüglich möglichen Verstrickung von V-Leuten dieser Behörden geltend.

Antworten wurden wegen Geheimhaltungsbedürftigkeit verweigert

Die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aus dem Jahr 2014 enthielt insbesondere Fragen zu einem etwaigen Einsatz von Heinz Lembke als V-Mann einer Sicherheitsbehörde des Bundes oder eines Landes. Die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke aus dem Jahr 2015 enthielt insbesondere Fragen zu Umfang und Aufbau der Akten zum Oktoberfestattentat sowie zu Quellen des Bundesamts für Verfassungsschutz. Ferner wurde die Frage gestellt, ob und wie viele Mitglieder der sogenannten Wehrsportgruppe Hoffmann als V-Leute für das Bundesamt beziehungsweise die Landesämter für Verfassungsschutz tätig geworden seien. Die Bundesregierung verweigerte die Beantwortung einzelner Fragen mit der Begründung, dass es sich um geheimhaltungsbedürftige Informationen handele, deren Bekanntwerden das Wohl des Bundes oder eines Landes gefährden könne. Die Fraktionen wandten sich an des BVerfG.

BVerfG gibt Fraktionen teilweise Recht

Das BVerfG hat den Fraktionen teilweise Recht gegeben. Dem Deutschen Bundestag stehe gegenüber der Bundesregierung ein Frage- und Informationsrecht zu (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und 20 Abs. 2 Satz 2 GG), an dem die einzelnen Abgeordneten und die Fraktionen als Zusammenschlüsse von Abgeordneten teilhätten und mit dem grundsätzlich eine Antwortpflicht der Bundesregierung korrespondiere. Die parlamentarische Kontrolle von Regierung und Verwaltung verwirkliche den Grundsatz der Gewaltenteilung, denn ohne Beteiligung am Wissen der Regierung könne das Parlament sein Kontrollrecht gegenüber der Regierung nicht ausüben. Daher komme dem parlamentarischen Informationsinteresse besonders hohes Gewicht zu, soweit es um die Aufdeckung möglicher Rechtsverstöße und vergleichbarer Missstände innerhalb von Regierung und Verwaltung gehe. Darüber hinaus sei die Kontrollfunktion des Parlaments zugleich Ausfluss der aus dem Demokratieprinzip folgenden Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament.

Gefährdung des Staatswohls markiert Grenze des Informationsnspruchs

Geheimhaltung gegenüber dem Parlament beschränke die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten und könne deshalb den notwendigen demokratischen Legitimationszusammenhang beeinträchtigen oder unterbrechen. Der Informationsanspruch der Abgeordneten, Fraktionen und des Deutschen Bundestages unterliege gleichwohl Grenzen. Sie ergäben sich hier aus dem Staatswohl und Grundrechten Dritter. Das Staatswohl könne durch das Bekanntwerden geheimhaltungsbedürftiger Informationen gefährdet werden. Allerdings sei es im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes dem Bundestag und der Bundesregierung gemeinsam anvertraut. Da der Bundestag in der Geheimschutzordnung in detaillierter Weise die Voraussetzungen für die Wahrung von Dienstgeheimnissen bei der Erfüllung seiner Aufgaben festgelegt habe, könne diese ein taugliches Instrument des Ausgleichs zwischen exekutivem Geheimhaltungsinteresse und parlamentarischem Informationsinteresse sein.

Fragerecht kann auch durch Grundrechte Dritter beschränkt sein

Die Bundesregierung sei aber nicht verpflichtet, dem Bundestag geheime Informationen vorzulegen, wenn dieser nicht den von der Bundesregierung für notwendig gehaltenen Geheimschutz gewährleiste. Außerdem könnten das Fragerecht der Abgeordneten, Fraktionen und des Bundestages sowie die Antwortpflicht der Bundesregierung dadurch begrenzt sein, dass diese die Grundrechte zu beachten haben. Für V-Leute könnten sich Gefahren für Leib und Leben ergeben, wenn durch die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage ihre Enttarnung drohe. Darüber hinaus seien Auswirkungen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht denkbar. Der allgemeine Achtungsanspruch schütze zudem Verstorbene vor grober Herabwürdigung und Erniedrigung. Schließlich habe eine Vertraulichkeitszusage grundrechtliche Relevanz, da eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG vorliegen könne, wenn das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot des Vertrauensschutzes nicht hinreichend berücksichtigt werde.

Auskunftsverweigerung muss hinreichend begründet werden

Die Bundesregierung müsse eine vollständige oder teilweise Auskunftsverweigerung hinreichend begründen. Ein Nachschieben von Gründen sei nicht zulässig, da eine erst im Organstreitverfahren gegebene ergänzende Begründung nichts an dem Rechtsverstoß ändere. Von daher sei die Bundesregierung zwar grundsätzlich verpflichtet, dem Parlament Antworten auf Anfragen aus dem Bereich der Tätigkeit von Nachrichtendiensten zu erteilen. Angesichts der Bedeutung, die dem Einsatz verdeckter Quellen bei der Informationsbeschaffung der Nachrichtendienste zukomme, könne sich die Bundesregierung aber trotz des erheblichen Informationsinteresses des Parlaments in diesem Bereich auf eine Gefährdung des Staatswohls und der Grundrechte verdeckt handelnder Personen berufen.

Parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlichen Handelns zwar von großer Bedeutung

Der Schutz von verdeckten Quellen und insbesondere von V-Leuten diene nicht nur dem Interesse der betroffenen Personen. Vielmehr könnten im Fall des Bekanntwerdens quellenbezogener Informationen auch Rückschlüsse auf Arbeitsweise und Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste gezogen werden. Die Einhaltung von Vertraulichkeitszusagen sei unverzichtbare Voraussetzung für die Führung und Anwerbung von V-Leuten und damit für die Effektivität der Aufgabenerfüllung durch die Nachrichtendienste. Diesem Geheimhaltungsinteresse stehe ein gewichtiges Informationsinteresse des Parlaments gegenüber, weil es beim Einsatz von V-Leuten zur Aufklärung extremistischer Bestrebungen und zur Verhinderung und Aufklärung schwerwiegender Straftaten um die Sicherheit des Staates und seiner Bevölkerung gehe. Der parlamentarischen Kontrolle komme auch mit Blick auf die Transparenz nachrichtendienstlichen Handelns eine besondere Aufklärungsfunktion zu.

Gefahr der Enttarnung von V-Leuten rechtfertigt aber regelmäßig Geheimhaltung

Antworten auf Anfragen zum Einsatz verdeckter Quellen durch die Nachrichtendienste beeinträchtigten Geheimhaltungsinteressen zwar nicht in jedem denkbaren Fall. Allerdings werde sich die Bundesregierung bei Fragen zu verdeckt handelnden Personen in der Regel auf entgegenstehende Gründe des Staatswohls sowie auf die Grundrechte der konkret betroffenen Personen berufen können. Insbesondere bei Fragen, die möglicherweise noch aktive V-Leute beträfen oder sich auf aktuelle beziehungsweise noch nicht weit zurückliegende Ereignisse bezögen, sei  regelmäßig von der Gefahr einer Enttarnung der V-Leute auszugehen. Es seien aber eng begrenzte Ausnahmefälle denkbar, in denen das parlamentarische Informationsinteresse überwiege. Dabei sei der Zeitablauf ein bedeutsamer, wenn auch nicht allein ausschlaggebender Faktor. So könne sich im Einzelfall bei weit zurückliegenden Vorgängen die Geheimhaltungsbedürftigkeit erheblich vermindert oder erledigt haben.

Gründe der Auskunftsverweigerung zu V-Mann Heinz Lembke nicht stichhaltig

Im Hinblick auf die Frage, ob und gegebenenfalls für welche Behörde Heinz Lembke ein V-Mann gewesen sei, könne die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ein Informationsinteresse von besonderem Gewicht geltend machen. Mit Blick auf eine zukünftige gesetzliche Regelung des Einsatzes von V-Leuten sei es von Bedeutung, ob es in der Vergangenheit zu einer Verstrickung von V-Leuten in rechtsterroristische Straftaten gekommen ist. Die von der Bundesregierung gegebene Begründung rechtfertige die Verweigerung der Antwort nicht. Weder könne Heinz Lemke aktuell oder künftig als V-Mann eingesetzt werden, noch lägen Anhaltspunkte dafür vor, dass laufende oder künftige Aufklärungseinsätze oder Ermittlungen gefährdet werden könnten. Ferner sei nicht plausibel begründet, weshalb die Bundesregierung in diesem Fall von einer Beeinträchtigung der allgemeinen Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste ausgehe. Ein Grundrechtsschutzbedürfnis sei vor dem Hintergrund, dass Heinz Lembke bereits seit 1981 tot ist, nicht ersichtlich.

Keine Gefährdung bei Beantwortung der Anfrage der Linken erkennbar

Auch hinsichtlich der Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke habe die Bundesregierung ihrer Antwortpflicht nur teilweise genügt. Es lasse sich nicht nachvollziehen, wie sich aus einer nach Jahren und Ursprungsbehörden aufgeschlüsselten Angabe der Zahl der Quellenmeldungen Rückschlüsse auf die Identität einzelner V-Leute oder auf die heutige Arbeitsweise der Nachrichtendienste ziehen lasse. Da die begehrten Informationen keinen hinreichend konkreten Bezug zu verdeckt tätigen Personen aufwiesen, sei nicht zu besorgen, dass grundrechtlich geschützte Rechtsgüter etwaiger V-Leute oder Dritter gefährdet werden könnten. Soweit die Bundesregierung vortrage, dass durch eine Beantwortung der Fragen zu V-Leuten in der Wehrsportgruppe Hoffmann Rückschlüsse auf die aktuelle Arbeitsweise und die Organisation der Nachrichtendienste ermöglicht werden könnten, erscheine dies insbesondere aufgrund des Zeitablaufs nicht nachvollziehbar. Zudem sei die Wahrscheinlichkeit der Enttarnung einzelner Personen so gering, dass eine Einschränkung des parlamentarischen Informationsrechts nicht gerechtfertigt sei. Die Wehrsportgruppe Hoffmann habe zum Zeitpunkt ihrer Auflösung etwa 400 Mitglieder gehabt. Rückschlüsse auf einzelne Personen seien nicht möglich.

Bundesregierung muss Fragen zu Bundesnachrichtendienst nicht beantworten

Etwas anderes gilt laut BVerfG hinsichtlich der Fragen, die sich auf den Bundesnachrichtendienst beziehen. Die Gefahr einer Enttarnung vom Bundesnachrichtendienst möglicherweise eingesetzter V-Leute in der Wehrsportgruppe Hoffmann wäre schon dann erheblich, wenn die Bundesregierung ihre bloße Existenz bestätigte. Als etwaige V-Leute des Bundesnachrichtendienstes kommen insbesondere die Mitglieder der Nachfolgeorganisation "Wehrsportgruppe Ausland" in Betracht, die nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes nur noch 15 Mitglieder hatte. In Anbetracht dieser geringen Zahl stiege die Gefahr einer Enttarnung bei einer positiven Beantwortung erheblich. Daher habe die Bundesregierung die Antwort auf diese Fragen verweigern dürfen.

Frage nach Gesamtzahl eingesetzter V-Leute unbedenklich

Hinsichtlich der Frage nach der Gesamtzahl eingesetzter V-Leute aus der Wehrsportgruppe beim Bundesamt für Verfassungsschutz und bei den Landesämtern für Verfassungsschutz erscheine es kaum möglich, allein aufgrund dieser Zahl nach über 30 Jahren Rückschlüsse auf die heutige Arbeitsweise der Behörden und die Identität einzelner Personen zu ziehen. Die Grenze der Geheimhaltungsbedürftigkeit werde jedoch durch die Fragen danach, wie viele V-Leute für welches Landesamt für Verfassungsschutz tätig waren, überschritten. Diese Information könnte eine Eingrenzung der damaligen Wohnorte etwaiger V-Leute oder ihre Zuordnung zu einzelnen Ortsgruppen der Wehrsportgruppe ermöglichen, was die Gefahr einer Enttarnung erheblich erhöhen würde. Vor diesem Hintergrund sei eine Beeinträchtigung von Belangen des Staatswohls in Gestalt der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste nicht von der Hand zu weisen.

BVerfG, Beschluss vom 13.06.2017 - 2 BvE 1/15

Redaktion beck-aktuell, 18. Juli 2017.