BVerfG bestätigt BSG-Rechtsprechung zu Aufwandspauschale bei Prüfung von Krankenhausabrechnungen

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur alten, vor 2016 geltenden Rechtslage bei der Prüfung einer Krankenhausabrechnung unter Einbeziehung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) überschreitet nicht die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 26.11.2018 entschieden und die Verfassungsbeschwerden mehrerer Krankenhausträger nicht zur Entscheidung angenommen. Das BSG differenzierte zwischen einer "Auffälligkeitsprüfung" und einer "Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit", wobei letztere zu keinem Anspruch der Krankenhäuser auf Zahlung einer Aufwandspauschale gegen die Krankenkassen führte (Az.: 1 BvR 318/17, 1 BvR 2207/17 und 1 BvR 1474/17).

Abrechnung von Krankenhausleistungen sehr fehleranfällig

Die Abrechnung von Krankenhausleistungen erfolgt in Deutschland überwiegend so, dass unterschiedliche Diagnose- und Prozedurenkombinationen in Gruppen zusammengefasst werden, die einen vergleichbaren ökonomischen und von der konkreten Verweildauer der Patienten unabhängigen Aufwand der Krankenhäuser abbilden sollen (sogenanntes DRG-System). Aufgrund der Komplexität dieses Systems kommt es unstreitig in erheblichem Maße zu Fehlkodierungen der für die Abrechnung maßgeblichen Diagnosen und Prozeduren. Deshalb ist die Kontrolle von Abrechnungen für die Krankenkassen von großer Bedeutung, für die Krankenhäuser allerdings mit erheblichem wirtschaftlichem und organisatorischem Aufwand verbunden.

BSG entwickelte dreistufiges Prüfsystem

Das gilt insbesondere für Prüfungen auf der dritten Stufe des vom BSG entwickelten Prüfsystems der Abrechnung von stationären Krankenhausleistungen: Danach prüfen die Krankenkassen auf einer ersten Stufe die von den Krankenhäusern übermittelten Daten. Erschließen sich die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung oder die Richtigkeit der Abrechnung der Krankenkasse aufgrund dieser Angaben, daran anknüpfender Nachfragen oder eines Kurzberichts über die Behandlung nicht, ist auf der zweiten Stufe ein Prüfverfahren unter Einschaltung des MDK einzuleiten. Dazu hat die Krankenkasse dem MDK die zur Begutachtung erforderlichen Unterlagen vorzulegen, die ihr vom Krankenhaus zur Verfügung gestellt worden sind. Ist der Sachverhalt auch auf dieser Grundlage nicht zu klären, hat das Krankenhaus schließlich auf einer dritten Stufe dem MDK alle weiteren Angaben zu erteilen und Unterlagen vorzulegen, die im Einzelfall zur Beantwortung der Prüfanfrage der Krankenkasse benötigt werden.

BSG differenzierte zwischen "Auffälligkeitsprüfung" und "Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit"

Die Pflicht der Krankenkassen zur Einholung einer Stellungnahme des MDK ist in § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V geregelt. In diesem Rahmen war bis zu einer Gesetzesänderung zum 01.01.2016 die auch den hiesigen Verfahren zugrunde liegende Frage umstritten, ob alle denkbaren Prüfungen von Krankenhausabrechnungen durch die Krankenkassen unter Einbeziehung des MDK von § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V erfasst werden und die Krankenkassen daher durchgängig die daran anknüpfenden Regelungen des § 275 Abs. 1c SGB V zu beachten und gegebenenfalls die dort vorgesehene Aufwandspauschale in Höhe von 300 Euro nach dessen Satz 3 zu zahlen haben oder ob es – so die BSG-Rechtsprechung – neben einer dort geregelten "Auffälligkeitsprüfung" noch eine davon unabhängige und in den maßgeblichen Zeiträumen den Regelungen des § 275 Abs. 1c SGB V nicht unterworfene und damit keine Aufwandspauschale auslösende "Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit" gibt.

Neuregelung bestimmt Aufwandspauschale auslösende Prüfung

Mit Wirkung zum 01.01.2016 fügte der Gesetzgeber als Reaktion auf die BSG-Rechtsprechung § 275 Abs. 1c SGB V einen Satz 4 an. Danach ist als Prüfung nach Satz 1 jede Prüfung der Abrechnung eines Krankenhauses anzusehen, mit der die Krankenkasse den MDK beauftragt und die eine Datenerhebung durch den MDK beim Krankenhaus erfordert.

Mehrere Krankenhausträger rügten BSG-Rechtsprechung

Mehrere Krankenhausträger, davon ein Teil vollständig oder mehrheitlich in kommunaler, die übrigen in privater Hand, wendeten sich gegen die BSG-Rechtsprechung, wonach eine Aufwandspauschale bei der Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit einer Krankenhausabrechnung unter Einbeziehung des MDK vormals nicht geltend gemacht werden konnte. Während die Beschwerdeführerinnen vor den Instanzgerichten Erfolg hatten, hob das BSG die instanzgerichtlichen Verurteilungen zur Zahlung der Pauschale auf und wies die Klagen ab. Mit den Verfassungsbeschwerden rügten die Beschwerdeführerinnen, die BSG-Rechtsprechung überschreite die Grenzen verfassungsrechtlich zulässiger Rechtsfortbildung.

BVerfG: Verfassungsrechtliche Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung nicht überschritten

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Soweit die Beschwerdeführerinnen zur öffentlichen Hand gehören, seien die Beschwerden mangels Grundrechtsfähigkeit bereits unzulässig. Im Übrigen seien die Beschwerden unbegründet. Selbst wenn man davon ausgehe, dass es sich bei der gerügten BSG-Rechtsprechung um richterliche Rechtsfortbildung handele, seien deren verfassungsrechtliche Grenzen durch die angegriffenen Entscheidungen noch nicht überschritten. Zwar wäre einfachrechtlich ein anderes Verständnis der maßgeblichen Vorschriften vertretbar. Das führe aber nicht zur Verfassungswidrigkeit der hier angegriffenen Entscheidungen.

Wortlaut lässt keine Erfassung aller denkbaren Abrechnungsprüfungen erkennen

Laut BVerfG kann dem Wortlaut des § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V nicht entnommen werden, dass die Vorschrift alle denkbaren Abrechnungsprüfungen der Krankenkassen unter Einbeziehung des MDK erfasst und den Regelungen des § 275 Abs. 1c SGB V unterwirft.

Nachvollziehbare Anknüpfungspunkte für Differenzierung des BSG gegeben

Das BVerfG führt weiter aus, dass sich das BSG sich für die Differenzierung zwischen der sogenannten Auffälligkeitsprüfung und der Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit auch auf nachvollziehbare Anknüpfungspunkte stützen könne. Die im Wortlaut der Norm ausdrücklich angesprochenen Auffälligkeiten identifiziere das BSG mit Fragen, die sich mit Blick auf die Notwendigkeit der stationären Behandlung dem Grunde und dem Umfang nach ergäben. Bestünden diesbezüglich Zweifel, mache dies vor dem Hintergrund des Wirtschaftlichkeitsgebots die Prüfung erforderlich, ob die stationäre Behandlung (in diesem Umfang) als gerechtfertigt angesehen werden kann und es sich also um die Abrechnung einer als solchen rechtmäßigen Leistung handelt. Das korrespondiere mit der Prüfung der Leistungserbringung nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 SGB V, sofern entsprechende Fragen erst anlässlich der Abrechnung aufträten. Dieses Verständnis des BSG erscheine aufgrund des Zusammenhangs beider Alternativen des § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V und angesichts der im einleitenden Satzteil der Vorschrift für beide Fallgruppen einheitlich aufgeführten Kriterien für die Anforderung einer Stellungnahme des MDK nicht unvertretbar. Zudem zielten die Prüfungen nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V im Krankenhausbereich auch historisch primär auf die Notwendigkeit einer stationären Behandlung, wie das BSG in den angegriffenen Entscheidungen nachvollziehbar herausgearbeitet habe. Die Einfügung der zweiten Alternative in § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V lasse sich in diesen Kontext plausibel einordnen.

Anknüpfungspunkt für Prüfung sachlich-rechnerischer Richtigkeit im Vertragsarztrecht

Mit der Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit nehme das BSG einen aus dem Vertragsarztrecht bekannten Begriff auf, fährt das BVerfG fort. Dort sei als ein Unterfall der Wirtschaftlichkeitsprüfung eine "Auffälligkeitsprüfung" im Gesetz verankert gewesen. Der Wirtschaftlichkeitsprüfung habe eine Abrechnungsprüfung gegenüber gestanden, die auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit und Plausibilität der Abrechnungen und deren sachlich-rechnerischer Richtigkeit gezielt habe. Hiermit vergleichbar beziehe das BSG das Prüfregime der sachlich-rechnerischen Richtigkeit auf die Frage der Fehlerfreiheit der Abrechnung einer als solcher dem Grunde und dem Umfang nach rechtmäßigen stationären Krankenbehandlung. Damit könne das BSG auch für den Begriff der sachlich-rechnerischen Richtigkeit und deren Prüfung auf einen Anknüpfungspunkt im Gesetz verweisen, auch wenn er sich in einem anderen Kontext finde. Für seine Übertragung auf die Prüfung der Krankenhausabrechnungen könne sich das BSG nachvollziehbar darauf berufen, dass § 301 SGB V die Krankenhäuser zur Übermittlung der für die Prüfung der Kodierung und damit der Höhe des Leistungsbetrags wesentlichen Daten an die Krankenkassen verpflichtet.

Besonderheiten des DRG-Abrechnungssystems begründen legitimes Interesse an Prüfung sachlich-rechnerischer Richtigkeit

Nach Ansicht des BVerfG hat die BSG-Rechtsprechung auch in der Sache durchaus gewichtige Gründe für sich, auch wenn angesichts der Materialien kaum zu übersehen sei, dass der Gesetzgeber sich diese im Kontext der Einführung und Änderung von § 275 Abs. 1c SGB V nicht zu eigen gemacht hat. Zum allgemeinen Argument zum Recht eines jeden Schuldners, die Berechtigung der ihm gegenüber erhobenen Forderungen nach Grund und Höhe zu prüfen, träten spezifische Überlegungen aus dem Verhältnis von Krankenhäusern und Krankenkassen hinzu: Schon die von den Beschwerdeführerinnen mitgeteilte Höhe der für die stationäre Krankenhausbehandlung typischerweise anfallenden Kosten und deren regelmäßige Steigerung ließen es verständlich erscheinen, dass das BSG eine eingeschränkte Prüftätigkeit der Kassen als problematisch angesehen hat. Ein nachvollziehbarer Grund für das vom BSG hervorgehobene legitime Interesse der Krankenkassen, die sachlich-rechnerische Richtigkeit von Abrechnungen prüfen zu können, ergebe sich zudem aus den Besonderheiten des Abrechnungssystems: Dabei gehe es weniger um bewusste Falschabrechnungen. Plausibel sei ein Prüfungsbedarf vielmehr wegen des Charakters des Systems als lernendes System: Wo Fehlsteuerungen und Fehlerquellen aufträten und Reformbedarf bestehe, werde für Krankenkassen erst erkennbar, wenn sie Abrechnungen ohne Einschränkungen und unter Zuhilfenahme des medizinischen Sachverstandes des MDK prüfen.

Hohe Zahl fehlerhafter Abrechnungen unterstreicht Prüfungsbedarf

Die hohe Zahl von über 40% fehlerhafter Abrechnungen verdeutliche diesen Prüfungsbedarf, selbst wenn die notwendigen Korrekturen im Ergebnis nicht in allen Fällen zu einer Reduzierung des Abrechnungsbetrags führten. Die Komplexität des Finanzierungssystems und die Vielzahl selbstständiger Krankenhäuser als Gläubiger zeigten, dass unzutreffende Abrechnungen kein zu vernachlässigendes Phänomen darstellen.

Wille des Gesetzgebers steht BSG-Rechtsprechung nicht entgegen

Dem BVerfG zufolge stehen auch die Gesetzgebungsmaterialien der angegriffenen BSG-Rechtsprechung nicht entgegen. Zwar sprächen die Materialien zur Einführung von § 275 Abs. 1c SGB V durch das Fallpauschalengesetz für einen weiten Anwendungsbereich der Vorschrift. Eindeutigen Ausdruck in Wortlaut und Systematik hätten die dortigen Erwägungen allerdings nicht gefunden. Die Rechtsänderung zum 01.01.2016 verstärke zudem entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen diese Indizwirkung nicht. Zwar sei unverkennbar, dass mit der Anfügung von § 275 Abs. 1c Satz 4 SGB V die streitige Rechtsprechung korrigiert werden sollte. In der Begründung zum Entwurf des Krankenhausstrukturgesetzes werde jedoch die vom BSG vorgenommene Unterscheidung bestätigend aufgenommen und die Pflicht zur Zahlung einer Aufwandspauschale in Fällen der Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit als "Neuregelung" bezeichnet. Mit Blick auf die verfassungsrechtliche Bedeutung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung seien solche Ausführungen in Gesetzgebungsmaterialien, die eine ständige Rechtsprechung grundsätzlich akzeptierten, zweifellos von Bedeutung, selbst wenn sie im Rahmen einer deren Auswirkungen für die Zukunft weitgehend korrigierenden Gesetzesänderung erfolgten. Gehe man vor diesem Hintergrund von einer vom Gesetzgeber akzeptierten Differenzierungsmöglichkeit zwischen einer Auffälligkeitsprüfung und einer Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit aus, ergebe sich insgesamt das Bild eines verfassungsrechtlich akzeptablen Wechselspiels von Rechtsprechung und Rechtsetzung.

Vom BSG angenommene Maßgeblichkeit der Neuregelung erst ab Anfang 2016 nicht zu beanstanden

Die Annahme des BSG, die Anfügung von Satz 4 an § 275 Abs. 1c SGB V entfalte erst ab 01.01.2016 Wirkung und sei nicht als zurückwirkende Klarstellung der ohnehin geltenden Rechtslage anzusehen, verletze die Grenzen verfassungsrechtlich zulässiger Rechtsfortbildung nicht. Zum einen handele es sich insoweit um die einfachrechtliche Auslegung der Regelungen über das Inkrafttreten des Krankenhausstrukturgesetzes, die allein an dem von den Beschwerdeführerinnen nicht hinreichend substantiiert gerügten Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG zu messen wäre. Zum anderen lasse sich die BSG-Rechtsprechung zu dieser Frage mit Blick auf den Wortlaut, die andernfalls entstehende Rückwirkungsproblematik und die Materialien zum Krankenhausstrukturgesetz rechtfertigen.

BVerfG, Beschluss vom 26.11.2018 - 1 BvR 318/17

Redaktion beck-aktuell, 8. Januar 2019.