BGH versagt Afghanen Entschädigung für erlittene Abschiebehaft

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat über einen gegen die Bundesrepublik Deutschland und den Freistaat Bayern geltend gemachten Anspruch auf immaterielle Entschädigung wegen Abschiebehaft nach Art. 5 Abs. 5 EMRK zum Nachteil des Klägers entschieden. Ein Anspruch gegen die Bundesrepublik scheide schon deshalb aus, weil diese nicht die richtige Beklagte sei. Sie habe keine Hoheitsgewalt bei der Freiheitsentziehung des Klägers ausgeübt. Der Anspruch gegen den Freistaat Bayern scheitere daran, dass es an einer Verletzung der EMRK fehle. So seien die Entscheidungen der Haftrichter in Passau und München, die von einer Fluchtgefahr ausgegangen seien, nachvollziehbar. Der geltend gemachte Verstoß gegen das Trennungsgebot könne keinen Anspruch aus der EMRK begründen (Urteil vom 18.04.2019, Az.: III ZR 67/18).

Asylantrag zunächst in Slowakei gestellt

Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste zusammen mit seiner Frau und seiner damals eineinhalbjährigen Tochter mit dem Zug aus Österreich kommend am 02.10.2013 in das Bundesgebiet ein. Bei der Grenzkontrolle in Passau konnte er keine aufenthaltslegitimierenden Ausweispapiere vorlegen. Er gab an, bereits in der Slowakei einen Asylantrag gestellt zu haben. Er wolle aber in Deutschland bleiben. Eine Abfrage im EURODAC-System ergab, dass der Kläger und seine Ehefrau in der Slowakischen Republik am 25.08.2013 einen Asylantrag gestellt hatten.

Bundespolizei verfügt Zurückschiebung und bewirkt Abschiebehaft

Die Bundespolizei verfügte daher die Zurückschiebung des Klägers nach der Dublin-II-Verordnung (EG-VO Nr. 343/2003). Ferner beantragte sie Haft zur Sicherung der Zurückschiebung. Mit Beschluss vom 03.10.2013 ordnete das Amtsgericht Passau die vorläufige Freiheitsentziehung an. Der Kläger wurde daraufhin in die gesonderte Abteilung für Abschiebegefangene der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim gebracht. Die Ehefrau des Klägers sowie seine Tochter wurden in einer Gemeinschaftsunterkunft in Passau untergebracht.

Anordnung wurde im Lauf des Verfahrens aufgehoben

In der Folgezeit wurde über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Wiederaufnahme des Klägers durch die Slowakische Republik betrieben. Am 08.10.2013 beantragte die Bundespolizei Zurückschiebungshaft bis längstens zum 15.11.2013. Mit Beschluss vom 16.10.2013 ordnete das AG München unter Aufhebung der einstweiligen Anordnung des AG Passau Abschiebehaft von 44 Tagen an (beginnend rückwirkend am 03.10.2013, längstens bis zum 15.11.2013). Auf die Beschwerde des Klägers setzte das Landgericht München I am 30.10.2013 die Vollziehung unter Auflagen – Aufenthaltnahme bei Ehefrau und Tochter in der Gemeinschaftsunterkunft in Passau sowie tägliche Erreichbarkeit dort um 10.00 Uhr und um 20.00 Uhr - aus und hob mit weiterem Beschluss vom 07.11.2013 die Haftentscheidung des AG München vom 16.10.2013 auf.

LG: Freiheitsentziehung von Anfang an rechtswidrig

Gleichzeitig stellte das LG fest, dass die Freiheitsentziehung von Anfang an rechtswidrig gewesen sei. Eine Entziehungsabsicht sei nicht erkennbar, jedenfalls reichten die gemachten Auflagen aus. Zwischenzeitlich hatte die Slowakische Republik der Rücknahme des Klägers und seiner Familie zugestimmt. Das BAMF verfügte daraufhin die Abschiebung. Nachdem der Kläger erfolglos versucht hatte, dagegen verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz zu erlangen, entzog er sich der Zurückschiebung, indem er mit seiner Familie die Zeit bis zum Ablauf der Zurückschiebefrist nach der Dublin-II-Verordnung im sogenannten Kirchenasyl verbrachte. Im Rahmen des deshalb in Deutschland durchgeführten nationalen Asylverfahrens wurde dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

Klage auf Haftentschädigung zunächst teilweise erfolgreich

Der Kläger hat die Beklagten auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung für die Zeit seiner Abschiebehaft ab 03.10.2013 in Höhe von 100 Euro je Hafttag (insgesamt 2.700 Euro) in Anspruch genommen. Das LG hat das beklagte Land (den Freistaat Bayern) - unter Abweisung der weitergehenden Klage - zur Zahlung von 810 Euro (27 Tage à 30 Euro) verurteilt und die Klage gegen die beklagte Bundesrepublik insgesamt abgewiesen. Die Berufungen des Klägers und des beklagten Landes haben keinen Erfolg gehabt. Hiergegen richten sich die vom LG zugelassenen Revisionen des Klägers und des beklagten Landes.

BGH weist Klage insgesamt ab

Der unter anderem für das Staatshaftungsrecht zuständige III. Zivilsenat des BGH hat die Revision des Klägers zurückgewiesen und auf die Revision des Landes das Berufungsurteil einschließlich der zugrunde liegenden landgerichtlichen Entscheidung im Umfang der Verurteilung abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.

Mangels Passivlegitimation gegen Bundesrepublik kein Schadenersatzanspruch

Der BGH hat auf die Revision des Klägers (gegen die Abweisung der Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland und die Höhe des gegen den Freistaat Bayern zuerkannten Betrags) entschieden, die Instanzgerichte seien zutreffend davon ausgegangen, dass dem Kläger gegen die Bundesrepublik Deutschland mangels Passivlegitimation kein Schadenersatzanspruch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK zusteht. Zwar sei im Verfahren der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK die Bundesrepublik als Vertragspartei Beschwerdegegner. Dementsprechend treffe sie eine etwaige vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach Art. 41 EMRK zugesprochene Entschädigung. Im Rahmen der innerstaatlichen Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs nach Art. 5 Abs. 5 EMRK sei jedoch die Frage nach der Person des Verpflichteten durch Anwendung des Art. 34 GG zu klären. Danach sei der Hoheitsträger (Bund, Land oder sonstige Gebietskörperschaft) verantwortlich, dessen Hoheitsgewalt bei der rechtswidrigen Freiheitsentziehung ausgeübt wurde.

Nur Land griff in Freiheitsrecht des Klägers ein

Der Eingriff in das Freiheitsrecht des Klägers habe auf den Haftentscheidungen der AG Passau und München beruht. Über die Zulässigkeit und Fortdauer eines Freiheitsentzugs habe in Deutschland grundsätzlich nur der Richter zu entscheiden (Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG). Bei einer auf der Anordnung eines Richters beruhenden Freiheitsentziehung werde mithin die Hoheitsgewalt der Gebietskörperschaft ausgeübt, in deren Dienst dieser steht. Letzteres sei hier das beklagte Land und nicht die Bundesrepublik gewesen. Hieran ändere der Umstand nichts, dass die Bundespolizei Haftanträge gestellt habe und es ohne diese nicht zur Haft gekommen wäre. Diese Kausalitätsbetrachtung sei im Rahmen des Art. 5 Abs. 5 EMRK nicht maßgeblich. Denn die Antragstellung ändere nichts daran, dass bei den anschließend nach jeweiliger Anhörung des Klägers und eigenverantwortlich von den Amtsgerichten getroffenen Haftentscheidungen nur Hoheitsgewalt des beklagten Landes und nicht der Bundesrepublik ausgeübt worden ist.

Zuständigkeit der Bundespolizei für Vollzug der Haftentscheidungen irrelevant

Die von der Revision angesprochene Zuständigkeit der Bundespolizei für den Vollzug der richterlichen Haftentscheidungen sei in diesem Zusammenhang nicht entscheidend. Der - im Übrigen hier in einer Anstalt des Landes vollzogene - Freiheitsentzug finde seine Grundlage allein in der richterlichen Haftanordnung. Die Vollzugszuständigkeit sei insoweit kein eigenständiger Anknüpfungspunkt für eine Passivlegitimation der Bundesrepublik. Art. 5 Abs. 5 EMRK beziehe sich grundsätzlich auch nur auf die Haft als solche, nicht dagegen den Vollzug beziehungsweise die Haftbedingungen. Dass die zuständige Verwaltungsbehörde verpflichtet sei, von sich aus eine Beendigung der Haft zu veranlassen, wenn Umstände auftreten, die einer ursprünglich rechtmäßig angeordneten Haft nachträglich ihre Grundlage entziehen, spiele in diesem Zusammenhang schon deshalb keine Rolle, weil ein solcher Fall hier unstreitig nicht vorliegt. Soweit das LG Ansprüche aus Amtshaftung verneint hat, wende sich hiergegen der Kläger mit seiner Revision zu Recht nicht.

Schadenersatzanspruch gegen Land schon dem Grunde nach nicht gegeben

Die Rügen der Revision zur Höhe der dem Kläger gegenüber dem Beklagten zu 1 zuerkannten Entschädigung bleiben laut BGH bereits deshalb ohne Erfolg, weil dem Kläger schon dem Grunde nach kein Anspruch auf Schadenersatz zusteht.

LG-Entscheidung entfaltet keine Bindungswirkung gegenüber beklagtem Land

Zur Revision des beklagten Freistaats Bayern gegen seine Verurteilung zum Schadenersatz führt der BGH aus, dass das Berufungsgericht zu Unrecht davon ausgegangen sei  dass es bei der Prüfung einer Haftung des beklagten Landes an die Entscheidung des LG München I vom 07.11.2013 gebunden sei. Zwar seien nach der ständigen Rechtsprechung des Senats die Zivilgerichte im Amtshaftungsprozess an rechtskräftige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte im Rahmen ihrer Rechtskraftwirkung gebunden. Die Bindungswirkung erfasse in persönlicher Hinsicht die Beteiligten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens - bei Behörden deren Rechtsträger - und ihre Rechtsnachfolger und sei sachlich auf den Streitgegenstand beschränkt. Diese für den Amtshaftungsprozess entwickelten Grundsätze gölten gleichermaßen für einen Schadenersatzanspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK und insoweit auch für entsprechende Feststellungen der Rechtswidrigkeit einer Haftanordnung im Abschiebehaftbeschwerdeverfahren. Im vorliegenden Fall greife die Bindungswirkung der Entscheidung des LG München I allerdings nicht zum Nachteil des beklagten Landes. Dieses habe nicht zu den Verfahrensbeteiligten gehört. Vielmehr sei die Bundespolizei und damit eine Behörde der beklagten Bundesrepublik neben dem Kläger an dem zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Abschiebehaft führenden Beschwerdeverfahren vor dem LG München I beteiligt gewesen. Dessen Entscheidung könne deshalb gegenüber dem beklagten Land, das insoweit in diesem Verfahren vom Gericht kein rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) bekommen hat, keine Bindungswirkung in einem späteren Schadenersatzprozess zugesprochen werden.

Konventionswidrigkeit der Freiheitsentziehung zu prüfen

Mangels Bindungswirkung komme es damit darauf an, ob die durch die AG Passau und München angeordnete Freiheitsentziehung konventionswidrig im Sinne des Art. 5 Abs. 5 EMRK war. Dies hat der BGH verneint. Entgegen der Auffassung des beklagten Landes sei eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 5 Abs. 5 EMRK allerdings nicht erst dann als rechtswidrig anzusehen, wenn sie nach Amtshaftungsgrundsätzen (§ 839 BGB) als unvertretbar zu bewerten wäre. Für die Konventionswidrigkeit spiele die Vertretbarkeit der richterlichen Haftanordnung keine Rolle. Art. 5 Abs. 5 EMRK knüpfe - anders als § 839 BGB - nicht an die persönliche (und lediglich über Art. 34 GG auf den Staat übergeleitete) Verantwortung des Beamten oder Richters an, sondern an den konventionswidrigen Freiheitsentzug, das heißt an den objektiven Konventionsverstoß. Die richterliche Maßnahme sei daher auf ihre sachliche Richtigkeit, das heißt ihre Vereinbarkeit mit der Konvention, nicht lediglich auf ihre Vertretbarkeit zu überprüfen.

Nachvollziehbarkeit der Entscheidung der Haftrichter maßgeblich

Bezüglich der Richtigkeitskontrolle sei allerdings zu beachten, dass wenn die Anordnung einer Freiheitsentziehung auch von einer prognostischen Beurteilung tatsächlicher Umstände abhängt - wie etwa der Frage, ob Fluchtgefahr besteht beziehungsweise ob dieser auch durch ein milderes Mittel als der Haft ausreichend entgegengewirkt werden kann -, es aus der Natur der Sache nicht nur eine einzige richtige Entscheidung gebe und alle anderen Bewertungen rechtswidrig seien. Insbesondere gehe es nicht an, dass der Richter im Entschädigungsprozess seine eigene Prognose einfach an die Stelle der des Haftrichters setzt. Vielmehr könne im Rahmen der Prognosen, denen Bewertungsspielräume eigen sind, auch eine andere Würdigung nachvollziehbar, tragfähig und insoweit im Rahmen des Art. 5 EMRK rechtmäßig sein. Ausgehend von diesem Maßstab könne die von den AG Passau und München angeordnete Haft nicht als konventionswidrig im Sinne des Art. 5 Abs. 5 EMRK angesehen werden.

Prognose der "Fluchtgefahr" nicht zu beanstanden

Die Amtsgerichte seien – nach jeweiliger Anhörung des Klägers – unter anderem davon ausgegangen, dass die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung erforderlich ist und der Haftzweck nicht durch ein milderes, ebenfalls ausreichendes anderes Mittel erreicht werden kann. Die den Haftentscheidungen insoweit zugrunde liegende Prognose sei nicht zu beanstanden. Der Kläger habe bei seinen Anhörungen angegeben, mit seiner Familie in Deutschland bleiben und nicht in die Slowakei zurück zu wollen. Gegenüber der Bundespolizei habe er dies zuvor unter anderem damit begründet, dass die Situation in der Slowakei "schlimm" beziehungsweise "wie ein Gefängnis" sei und man "dort nicht leben kann". Wenn die Amtsgerichte unter anderem vor diesem Hintergrund davon ausgegangen seien, es bestehe die Gefahr, dass der Kläger sich nicht freiwillig der Zurückschiebung in die Slowakei stellen werde, sodass zur Sicherung Abschiebehaft nötig sei, sei diese seinerzeit angestellte Prognose nicht als rechtswidrig zu bewerten.

Verstoß gegen Trennungsgebot keine Konventionsverletzung

Eine Konventionsverletzung nach Art. 5 Abs. 5 EMRK lässt sich entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht aus einem Verstoß gegen das sogenannte Trennungsgebot im Rahmen des Vollzugs der Abschiebehaft herleiten. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG bestimme zwar, dass die Inhaftierung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen zu erfolgen hat. Hierauf lasse sich ein Schadenersatzanspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK für die nicht in einer solchen speziellen Haftanstalt, sondern lediglich in einer gesonderten Abteilung der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim vollzogene Abschiebehaft aber nicht stützen. Denn nach der Senatsrechtsprechung betreffe Art. 5 Abs. 5 EMRK nur die Freiheitsentziehung als solche, nicht den Haftvollzug beziehungsweise die Modalitäten der Haft. Daher ergäben sich aus Art. 5 Abs. 5 EMRK keine Rechte von inhaftierten Personen in Bezug auf ihre Behandlung in der Haft. Ein Verstoß gegen das Trennungsgebot betreffe im Sinne der EMRK und der Senatsrechtsprechung nur den Vollzug der Haft. Amtshaftungsansprüche gegen das beklagte Land mache der Kläger zu Recht nicht geltend, so der BGH abschließend. 

BGH, Urteil vom 18.04.2019 - III ZR 67/18

Redaktion beck-aktuell, 18. April 2019.