BGH: Grundsätzlich Tatmehrheit bei nacheinander erfolgenden Angriffen auf einzelne Menschen

StGB §§ 22, 23 I, 52, 53, 212, 223, 224 I Nr. 2, Nr. 4; StPO § 358 II Nr. 1

1. Will der Täter bei nacheinander erfolgenden Angriffen auf einzelne Menschen jeden von ihnen in seiner Individualität beinträchtigen, ist sowohl nach natürlicher als auch nach rechtsethischer Betrachtung grundsätzlich von Tatmehrheit auszugehen. Dies gilt auch bei einem einheitlichen Tatentschluss sowie engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang.

2. Tateinheit liegt nur ausnahmsweise dann vor, wenn eine Aufspaltung der einzelnen Angriffe in Einzeltaten wegen eines außergewöhnlich engen zeitlichen und situativen Zusammenhangs willkürlich und gekünstelt erscheint, etwa bei Messerstichen innerhalb weniger Sekunden oder Angriffen gegen eine subjektiv nicht individualisierte Personenmehrheit.

3. Der Täter ist freizusprechen, soweit ihm mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage eine tatmehrheitlich begangene Tat zur Last gelegt worden war, von der sich das Gericht in der Hauptverhandlung nicht zu überzeugen vermochte. Dies gilt ohne Rücksicht auf die dem Urteil zugrunde gelegte konkurrenzrechtliche Bewertung. (Leitsätze des Verfassers)

BGH, Beschluss vom 16.04.2019 - 3 StR 48/19, BeckRS 2019, 9744

Anmerkung von
Rechtsanwalt Thomas Malsy, Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 13/2019 vom 27.06.2019

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Strafrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Strafrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Strafrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de.

Sachverhalt

Nach den Feststellungen des LG attackierte der Angeklagte (A) in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit zwei weiteren Personen den Zeugen K mit Faustschlägen gegen Kopf und Oberkörper. Schließlich holte A ein Klappmesser aus seiner Hosentasche und öffnete es. Die Lebensgefährtin des K (L) griff aus Sorge um dessen Leben in das Geschehen ein. Aus Verärgerung über ihr Eingreifen rammte A das Messer wuchtig in ihren linken Oberbauch. Dabei hielt er es für möglich und nahm es billigend in Kauf, L zu töten. Im Glauben, L möglicherweise tödlich verletzt zu haben, floh er vom Tatort. Das LG vermochte sich nicht davon zu überzeugen, dass A entsprechend dem weiteren Anklagevorwurf vor seiner Flucht erfolglos versuchte, auch K mit dem Messer zu attackieren. Es sprach A allein des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig. A rügte im Wege der Revision die Verletzung materiellen Rechts.

Entscheidung

Die Revision des A war insoweit erfolgreich, als er vom Vorwurf einer tatmehrheitlich begangenen versuchten Körperverletzung in Gestalt der versuchten Messerattacke auf K freigesprochen wurde. Ein Teilfreispruch sei geboten, weil die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage insoweit von einem tatmehrheitlichen Versuch ausgegangen sei, von dem sich das LG aber nicht habe überzeugen können. Darauf, ob die der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde liegende konkurrenzrechtliche Bewertung zutreffe, komme es nicht an. Indes sei der Schuldspruch zu ändern, weil sich A nach den Feststellungen wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei (tatmehrheitlichen) Fällen schuldig gemacht habe, wobei einer dieser Fälle in Tateinheit mit versuchtem Totschlag stehe. Die Tat zum Nachteil der L sei gegenüber derjenigen zum Nachteil des K materiell-rechtlich selbständig, weil die Angriffe nacheinander erfolgt seien sowie L und K jeweils in ihrer Individualität beeinträchtigen sollten. Daran änderten ein einheitlicher Tatentschluss sowie ein enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang nichts. Von Tateinheit sei nur ausnahmsweise dann auszugehen, wenn eine Aufspaltung in Einzeltaten wegen eines außergewöhnlich engen zeitlichen und situativen Zusammenhangs willkürlich und gekünstelt erscheine, etwa bei Messerstichen innerhalb weniger Sekunden oder Angriffen auf eine subjektiv nicht individualisierte Personenmehrheit. Ein solcher Ausnahmefall sei nach den Feststellungen des LG nicht gegeben. Das Verbot der Schlechterstellung hindere lediglich eine Verschärfung des Strafausspruchs, nicht aber des Schuldspruchs.

Praxishinweis

Es entspricht ständiger höchstrichterlicher Rspr., dass höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Personen und deren Verletzung einer additiven Betrachtungsweise nur ausnahmsweise zugänglich sind, aufeinanderfolgende Angriffe auf verschiedene Rechtsgutsträger also grundsätzlich in Tatmehrheit stehen (bspw. BGH BeckRS 2018, 33425). Dass ein Teilfreispruch ohne Rücksicht auf die dem Urteil zugrunde gelegte konkurrenzrechtliche Bewertung geboten ist, wenn dem Angeklagten mit der Anklage bzw. dem Eröffnungsbeschluss tatmehrheitlich begangene Fälle zur Last gelegt werden, die sich in der Hauptverhandlung nicht feststellen lassen, ist ebenfalls gefestigte Rspr. (bspw. BGH BeckRS 2017, 113909). Besondere Praxisrelevanz kommt dieser Rspr. deshalb zu, weil die konkurrenzrechtliche Bewertung maßgeblichen Einfluss zum einen auf die Strafe und zum anderen auf die Kostenentscheidung (§§ 465, 467 I StPO) haben kann.

Redaktion beck-aktuell, 1. Juli 2019.