Keine Rückwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags

Eine tarifvertragliche Allgemeinverbindlicherklärung (AVE), die zur Heilung ihrer unwirksamen Vorgängerin erlassen wird, setzt mangels gesetzlichen Heilungsverfahrens grundsätzlich voraus, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen im Zeitpunkt ihres Erlasses ebenso gegeben sind wie die Einhaltung der erforderlichen Verfahrensschritte. Ein Rückgriff auf Teile des vorherigen Verfahrens scheidet laut Bundesarbeitsgericht regelmäßig aus. Dies könne zur Unwirksamkeit führen.

Streit über die Wirksamkeit der AVE eines Tarifvertrags

Ein Wachunternehmen aus Sachsen lag im Streit mit der Gewerkschaft ver.di (Landesbezirk Hessen) sowie dem Bundesverband der Sicherheitswirtschaft e. V. (Hessen) über die Wirksamkeit der AVE vom 29.10.2019 des Entgelttarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Hessen vom 16.07.2009. Der ETV 2009 wurde 2010 teilweise für die unteren Lohngruppen für allgemeinverbindlich erklärt (AVE 2010), ohne dass zuvor die Leitung des zuständigen Ministeriums damit befasst war. Ende 2011 hatte die Gewerkschaft den ETV 2009 gekündigt. Während des anhängigen Verfahrens beim LAG Hessen gab der hessische Minister für Soziales und Integration am 29.10.2019 eine erneute eingeschränkte AVE des ETV 2009 mit Wirkung ab dem 01.07.2009 bekannt. Auch damit war die Antragstellerin nicht einverstanden. Sie teilte mit, dass es nicht möglich sei, einen bereits abgelaufenen Tarifvertrag rückwirkend für allgemeinverbindlich zu erklären. Das LAG Hessen wies den Antrag auf Feststellung der Rechtsunwirksamkeit der AVE 2019 zurück, da die Voraussetzungen für eine AVE nach § 5 TVG erfüllt seien. Die Norm ermögliche es, auch einen Tarifvertrag, dessen zeitlicher Geltungsbereich ausschließlich in der Vergangenheit liege, nachträglich für allgemeinverbindlich zu erklären. Die Rechtsbeschwerde beim BAG hatte Erfolg.

Fehlende Ministerbefassung kann nicht nachgeholt werden

Den obersten Arbeitsrichtern zufolge ist die AVE 2019 unwirksam, weil wesentliche verfahrensrechtliche Voraussetzungen für ihren Erlass nach § 5 TVG in Verbindung mit den Bestimmungen der TVG-DVO nicht eingehalten wurden (§§ 98 Abs. 3 Satz 1, 92 Abs. 272 Abs. 5 ArbGG in Verbindung mit §§ 562 Abs. 1563 Abs. 3 ZPO). Ein Rückgriff auf Verfahrensschritte aus einem früheren AVE-Verfahren scheide entgegen der Auffassung des LAG aus, so die Erfurter Richter. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtswirksamkeit der AVE 2019 sei deren Erlass am 29.10.2019. Zu diesem Zeitpunkt galt § 5 TVG in der Fassung vom 16.08.2014. Da deren Laufzeit jedoch bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung beendet war, komme jedenfalls im Hinblick auf die materiellen Voraussetzungen - auch unter Vertrauensschutzgesichtspunkten - ebenfalls eine Anwendung von § 5 TVG a.F. in Betracht. So oder so erweise sich die AVE 2019 als unwirksam. Laut BAG ist ein besonderes "Heilungsverfahren" für das AVE-Verfahren gesetzlich nicht vorgesehen. Eine fehlende Ministerbefassung könne nicht nachgeholt werden. Da die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für den Erlass der AVE 2019 nach § 5 TVG a.F. bzw. n.F. in Verbindung mit den Bestimmungen der TVG-DVO (in der bis zum 30.06.2021 geltenden Fassung) entgegen der Auffassung des LAG aber nicht erfüllt gewesen seien, scheide ein Rückgriff auf Verfahrensschritte aus dem Verfahren, das zum Erlass der AVE 2010 führte, insoweit aus.

BAG, Beschluss vom 23.02.2022 - 10 ABR 33/20

Redaktion beck-aktuell, 20. Mai 2022.