LSG Baden-Württemberg: Vorversicherungszeit in der Pflegeversicherung

SGB XI § 33

Für Familienversicherte wird die für die Gewährung von Pflegeleistungen erforderliche Vorversicherungszeit durch die vorgehende Mitgliedschaft in einer privaten Pflegeversicherung nicht erfüllt. § 33 Abs. 3 SGB XI schützt nur denjenigen, der nach Übertritt aus der privaten Pflegeversicherung in die (beitragspflichtige) Versicherungspflicht zur sozialen Pflegeversicherung wechselt, nicht aber Familienversichert. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.11.2016 - L 4 P 949/16, BeckRS 2016, 110107

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 02/2017 vom 03.02.2017

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Sachverhalt

Klägerin ist die Ehefrau des 1962 geborenen und 2016 verstorbenen Versicherten, mit dem sie zum Zeitpunkt ihres Todes in einem gemeinsamen Haushalt lebte. Der Versicherte war von 2001 bis zum 30.04.2013 privat pflegeversichert – als freischaffender Fotograf. Der Versicherte kündigte diese Versicherung aus finanziellen Gründen und wurde von der Beklagten ab 01.05.2013 in die Familienversicherung gem. § 25 SGB XI aufgenommen. Der Versicherte litt schon damals unter Bewegungseinschränkungen mit Gang- und Standunsicherheit bei Amytropher Lateralsklerose (ALS). Er beantragte im Mai 2013 bei der Beklagten Leistungen der Pflegeversicherung. Nach Einholung eines Gutachtens lehnte diese die Gewährung von Leistungen ab mit der Begründung, die Familienversicherung habe erst am 01.05.2013 begonnen, so dass ein Anspruch wegen der notwendigen Vorversicherungszeit nach § 33 Abs. 2 Satz 1 SGB XI erst ab dem 01.05.2015 in Betracht komme. Der Versicherte möge zeitnah einen neuen Antrag stellen.

Der Versicherte widersprach und wies darauf hin, dass er wegen seiner Erkrankung in den letzten Jahren vor Kündigung der privaten Pflegeversicherung bereits wegen der Erkrankung seinen Beruf nicht mehr habe ausüben können bzw. nur noch wenige Euro im Monat verdient habe. Das SG hob mit Gerichtsbescheid die Bescheide auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger Leistungen ab 01.05.2013 nach der Pflegestufe I zu gewähren. Bei der Ermittlung der Vorversicherungszeit sei die private Pflegeversicherung zu berücksichtigen. Dagegen richtet sich die Berufung der Pflegekasse.

Entscheidung

Das LSG hebt den Gerichtsbescheid auf und weist die Klage ab. Nach § 33 Abs. 2 Satz 1 SGB XI kommt ein Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung nur in Betracht, wenn der Versicherte in den letzten 10 Jahren vor der Antragstellung mindestens 2 Jahre als Mitglied versichert war. Diese Voraussetzung erfüllte der Versicherte nicht. Nach § 33 Abs. 3 SGB XI ist bei Personen, die wegen des Eintritts von Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung aus der privaten Pflegeversicherung ausscheiden, die dort ununterbrochen zurückgelegte Versicherungszeit auf die Vorversicherungszeit anzurechnen. Diese Voraussetzung erfülle – so das LSG – der Versicherte nicht, da er ab 01.05.2013 familienversichert war. Die Familienversicherung ist nicht identisch mit dem Eintritt von Versicherungspflicht und reicht daher für ein Eingreifen des § 33 Abs. 3 SGB XI nicht aus. Zwar regelt das dritte Kapitel des SGB XI unter der Überschrift „Versicherungspflichtiger Personenkreis“ in § 25 SGB XI auch die Familienversicherung, jedoch ist unter Berücksichtigung des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks in § 33 Abs. 3 SGB XI zwischen einer Versicherung als Mitglied und einer Familienversicherung zu unterscheiden. Diese Differenzierung liegt auch im von der Klägerin angeführten § 205 Abs. 2 VVG zugrunde. Dort wird in Satz 1 ein Kündigungsrecht derjenigen Personen normiert, die kraft Gesetzes kranken- oder pflegeversicherungsbedürftig geworden sind. Satz 5 bestimmt, dass der Versicherungspflicht der gesetzliche Anspruch auf Familienversicherung gleichtsteht. An einer solchen Gleichstellungsregelung fehlt es indessen in § 33 Abs. 3 SGB XI.

Dieses Auslegungsergebnis werde durch den Zweck des § 33 Abs. 3 SGB XI bestätigt. Die Anrechnung von Vorversicherungszeiten in der privaten Pflegeversicherung soll „Nachteile des einzelnen im Hinblick auf die in der sozialen Pflegeversicherung vorgesehene Vorversicherungszeit … vermeiden“, so die Gesetzesbegründung. Der Versicherte habe ja die Wahlmöglichkeit gehabt, die beitragsfreie Familienversicherung in Anspruch zu nehmen, für eine zweijährige Wartezeit aber keinen Leistungsanspruch zu haben. Dies unterscheide ihn von Versicherungspflichtigen, die dieses Wahlrecht nicht haben, z.B. weil sie nach dem SGB XI (sozial)versicherungspflichtig werden, wegen Unterschreitens der Beitragsbemessungsgrenze.

Praxishinweis

1. Das LSG hat die Revision zugelassen, die mittlerweile auch eingelegt wurde unter dem Az. B 3 P 5/16 R.

2. Das BSG sollte sich mit der ratio legis doch wesentlich intensiver und genauer auseinandersetzen: Die Vorversicherungszeit zielt auf den Schutz der Solidargemeinschaft soweit es um Personen geht, die zuvor nicht versichert waren (Stichwort nach der Gesetzesbegründung „Zuwanderer“). Ob dieser gesetzliche Zweck heute noch sachgerecht ist, angesichts der Gültigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention, ist eine ganz andere Frage.

Der Gesetzgeber hat von Anfang an die soziale und die private Pflegeversicherung als gleichberechtigt behandelt („substitutiv“). Dann aber widerspricht es nicht nur dem Sinn und Zweck des Gesetzes, sondern auch dem Schutz behinderter Menschen (der Versicherte war schwerstkrank!), ihm den Leistungsanspruch für die Dauer von 2 Jahren zu nehmen nur deshalb, weil er – mangels Einkommen aus selbständiger Tätigkeit – von der privaten Pflegeversicherung in die Familienversicherung gewechselt ist. Mit dem gleichen Argument müsste solchen Personen der Leistungsanspruch verweigert werden, wenn das bisher beitragzahlende Mitglied der sozialen Pflegeversicherung nun familienversichert wird – mangels Einkommen aus Erwerbstätigkeit.

3. Der Versicherte war einkommenslos. Falls er auch vermögenslos war, stellt sich die Frage, ob er anstelle der Leistungen nach dem SGB XI Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach §§ 61 ff. SGB XII gehabt hätte. Auch dies hätte seitens des Gerichtes wohl näher beleuchtet werden müssen, so wie dies für die Fälle der EU-Ausländer gilt, die zunächst Leistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen, gegebenenfalls aber wegen des Ausschlusses nach § 7 SGB II Ansprüche gegen den Sozialhilfeträger haben.

Redaktion beck-aktuell, 8. Februar 2017.