BVerfG: Nichtberücksichtigung von fristgerecht eingegangenem Parteivorbringen

GG Art. 103 I; ZPO § 522 II, § 538

1. Art. 103 I GG gebietet es, dass das Gericht den Ablauf gesetzlicher oder von ihm zur Äußerung gesetzter Fristen abzuwarten hat. Wenn das Gericht ein innerhalb einer solchen Frist erfolgtes Vorbringen bei seiner Entscheidung unberücksichtigt lässt, schränkt es das rechtliche Gehör in einer vom Gesetz nicht mehr gedeckten Weise ein und verstößt gegen Art. 103 I GG.

2. Die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann auch in einem solchen Fall aber nur Erfolg haben, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Berücksichtigung des fristgerecht eingegangenen Vorbringens das Gericht zu einer anderen Beurteilung des Sachverhalts oder in einem wesentlichen Punkt zu einer anderen Würdigung veranlasst oder im Ganzen zu einer anderen, ihm günstigeren Entscheidung geführt hätte. (Leitsätze des Bearbeiters)

BVerfG, Beschluss vom 07.02.2018 - 2 BvR 549/17, BeckRS 2018, 1782

Anmerkung von 
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe 

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 08/2018 vom 20.4.2018

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Sachverhalt

Die Parteien streiten um Schadensersatz nach einem Grundstücksverkauf wegen nicht offenbarter Schäden an einer Stützmauer in Höhe von ca. 13.000 EUR. Das LG wies die Klage nach Inaugenscheinnahme der durch den beweisbelasteten Beklagten vorgelegten Lichtbilder wegen Nichterweislichkeit der geltend gemachten bewussten Täuschung durch den Beklagten ab (LG Chemnitz BeckRS 2016, 129952). Hiergegen legten die Kläger Berufung ein. Nach Eingang der Berufungsbegründung wies das OLG die Kläger mit Hinweisbeschluss auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung im Beschlusswege nach § 522 II ZPO hin und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 15.11.2016. Nach Eingang eines Schriftsatzes der Kläger vom 7.11.2016 wies das OLG noch am 15.11.2016 die Berufung im Beschlusswege zurück (OLG Dresden BeckRS 2016, 129978); ein am selben Tage eingegangener weiterer Schriftsatz der Kläger vom 14.11.2016, mit dem nun noch hilfsweise die Zurückverweisung an das LG nach Maßgabe des § 538 ZPO zur Klärung der Frage der Erkennbarkeit der Mängel durch Inaugenscheinnahme begehrt wurde, konnte dabei keine Berücksichtigung mehr finden. Eine auf die Nichtberücksichtigung dieses Schriftsatzes gestützte Anhörungsrüge nach § 321a ZPO wies das OLG unter Hinweis auf den als abschließend verstandenen Schriftsatz der Kläger vom 7.11.2016 zurück.

Entscheidung

Das BVerfG hat die gegen die Zurückweisung von Berufung und Anhörungsrüge gerichtete Verfassungsbeschwerde der Kläger nicht zur Entscheidung angenommen.

Zwar habe das OLG den in Art. 103 I GG gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör in unzulässiger Weise verkürzt, indem es die Berufung vor Ablauf der von ihm selbst gesetzten Frist bereits am 15.11.2016 per Beschluss zurückgewiesen habe (vgl. o. LS 1). Dabei komme es nicht darauf an, ob sich die Beschwerdeführer in ihrem Schriftsatz vom 7.11.2016 bereits in einer Weise geäußert hätten, die als abschließend habe verstanden werden können; selbst wenn dies der Fall gewesen sei, habe das OLG den Fristablauf nach den aus Art. 103 I GG folgenden verfassungsrechtlichen Anforderungen abwarten müssen. Dies habe es auch im Beschluss über die Zurückweisung der Anhörungsrüge verkannt und auch dort den Schriftsatz vom 14.11.2016 nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise gewürdigt, sodass der Verstoß gegen Art. 103 I GG auch nicht etwa im Zuge des Anhörungsverfahrens geheilt worden sei.

Gleichwohl sei die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung nicht angezeigt, da ausgeschlossen werden könne, dass die Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruhe (vgl. o. LS 2). Die Beschwerdeführer hätten weder nachvollziehbar dargelegt, dass der Beschluss über die Zurückweisung der Berufung auf diesem Gehörsverstoß beruhe, noch sei dies sonst ersichtlich. Hinsichtlich der gerügten Anwendbarkeit von § 522 II ZPO und der materiell-rechtlichen Rechtslage hätten die Beschwerdeführer mit dem übergangenen Schriftsatz vom 14.11.2016 lediglich ihr Vorbringen aus früheren Schriftsätzen vertieft. Dem erstmals geäußerten Zurückverweisungsbegehren fehle es an der Entscheidungserheblichkeit, weil nicht vorgetragen worden sei, warum sich aus einer Inaugenscheinnahme etwas anderes als aus den vom LG zu seiner Überzeugungsbildung herangezogenen Lichtbildern ergeben solle.

Praxishinweis

Das Berufungsgericht muss in einem Hinweisbeschluss gemäß § 522 II ZPO Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb einer zu bestimmenden Frist geben. Diese Frist steht dem Berufungsführer in vollem Umfang zur Verfügung. Sie ist also nicht bereits mit einer ersten Stellungnahme verbraucht. Vielmehr kann der Berufungsführer seine Stellungnahme innerhalb laufender Frist gegebenenfalls noch ergänzen. Die Bedeutung dieser Stellungnahme darf nicht unterschätzt werden, weil etwa Rügen aus Art. 103 I GG mit einer nachfolgenden Nichtzulassungsbeschwerde nur erhoben werden können, wenn die Übergehung von Vorbringen oder Beweisanträgen in einer Stellungnahme zu einem Hinweisbeschluss nach § 522 II ZPO gerügt wurde.

Redaktion beck-aktuell, 25. April 2018.