BGH: Im Prozess sind Schätzungen jenseits eines Mietspiegels erlaubt

ZPO §§ 286, 287; BGB §§ 558, 558a II, 555b, 555c

Es obliegt dem Tatrichter, anhand aller zu beachtenden Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob es bei Heranziehung eines einfachen Mietspiegels zur Bildung der Einzelvergleichsmiete sachgerecht erscheint, auf den sich danach ergebenden Wert einen Stichtagszuschlag vorzunehmen. (Leitsatz des Verfassers)

BGH, Urteil vom 15.03.2017 - VIII ZR 295/15, BeckRS 2017, 105293

Anmerkung von 
Richter am KG Dr. Oliver Elzer, Berlin

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 08/2017 vom 28.04.2017

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Sachverhalt

B ist Mieter einer K gehörenden und nach der Angabe im Mietvertrag ca. 99 m² großen Wohnung in Reutlingen. Die seit vielen Jahren unveränderte Miete beläuft sich auf monatlich 660 EUR zzgl. einer Betriebskostenvorauszahlung von 130 EUR. Nicht umgelegt, sondern in der Miete enthalten sind K's monatliche Aufwendungen für Grundsteuer und Sachversicherungen. Unter Bezugnahme auf den Reutlinger Mietspiegel 2013 (Stand Mai 2013) und ausgehend von einer tatsächlichen Wohnungsgröße von 105 m² fordert K den B Ende November 2013 auf, einer Erhöhung der Miete um 122,35 EUR ab dem 1.2.2014 zuzustimmen. Dabei rechnet K aus der bisher gezahlten Miete einen von ihm mit 48,24 EUR bezifferten Betriebskostenanteil für Grundsteuer und Sachversicherungen heraus. B akzeptiert die Erhöhung hinsichtlich eines Teilbetrages von 40 EUR. K klagt im Folgenden auf Zustimmung zur weiteren Mieterhöhung. Das AG gibt der Klage iHv 22 EUR statt – was unter Berücksichtigung des von B akzeptierten Betrages eine monatlich zu zahlende Miete von 722 EUR ergibt. Die hiergegen gerichtete Berufung des B bleibt ohne Erfolg. Mit der Revision verfolgt B sein Klageabweisungsbegehren weiter. Ohne Erfolg.

Entscheidung

K könne eine Mieterhöhung um monatlich weitere 22 EUR beanspruchen. In zeitlicher Hinsicht sei auf den Zugang des Zustimmungsverlangens abzustellen, also auf den November 2013. Der mit der Beurteilung der Berechtigung der Mieterhöhung befasste Tatrichter sei wegen der zeitlichen Differenz zum Mietspiegel – Mai 2013 – berechtigt gewesen, einer zwischenzeitlichen Steigerung des Mietpreisniveaus durch Vornahme eines die Steigerung ausgleichenden Zuschlags zu begegnen. Die „Aktualisierungszyklen" gem. §§ 558c I, 558d II BGB hätten ihn nicht gehindert. Etwa eine lineare Interpolation zwischen dem für eine Wohnung bekannten Wert des Mietspiegels 2013 und demjenigen des Mietspiegels 2015 sei vertretbar.

Praxishinweis

Die Ortsüblichkeit der verlangten Miete – ist sie streitig – ist als streitige Tatsache nach §§ 355 ff. ZPO zu beweisen. Als Beweismittel kommt von Gesetzes wegen eigentlich nur ein Sachverständigengutachten in Frage. Von dessen Einholung kann nach hM indes abgesehen werden, wenn das Gericht über Ortskenntnis verfügt und ein einfacher Mietspiegel vorliegt. Denn die Rechtsprechung lässt einfache Mietspiegel als Hilfstatsache (Indiz) für die behauptete Höhe zu, soweit diese die Tatbestandsmerkmale des § 558c I BGB erfüllen. Das Gericht habe dabei als Ausgangspunkt seines Denkens nach hM den Mietspiegel „anzuwenden", dessen Erhebungsstichtag sich auf den Zugang des Erhöhungsverlangens bezieht.

Der BGH stellt vor diesem Hintergrund die Selbstverständlichkeit heraus, dass das Gericht (es geht nicht um den Vermieter; soweit der BGH Rn. 18 „Gegenstimmen" ausmacht, sollte das ggf. nochmals überprüft werden) grds. frei ist, zu den aus dem Mietspiegel zu gewinnenden Zahlen „Zuschläge" zu machen (siehe auch den Rechtsentscheid des OLG Hamm NJW-RR 1997, 142; aA aber KG GE 2007, 1629). Denn der Tatrichter ist im Rahmen seiner freien Überzeugungsbildung nicht auf das im Erhöhungsverlangen des Vermieters genannte Begründungsmittel iSd § 558 a II BGB – im Fall ein einfacher Mietspiegel – beschränkt (BGH NJW 2013, 775 Rn. 14). Begibt sich ein Gericht freilich außerhalb eines solchen Mietspiegels, ist fraglich, wie zu verfahren ist – und ob es nach allgemeinen Grundsätzen nicht wenigstens in diesem Falle eines Sachverständigengutachtens bedarf. Die vom BGH gebilligte Idee – nach Erscheinen eines neuen Mietspiegels – einen Wert zwischen verschiedenen Mietspiegelwerten zu errechnen, steht auf „schwankenden Boden". Denn dem Tatgericht fehlen idR wohl verlässliche Kriterien für eine eigenständige Rückrechnung auf den maßgeblichen Zeitpunkt (BVerfG NJW 1992, 1377). Der Gesetzgeber hat dieses Problem im Übrigen gesehen – und eine Verzögerung bewusst hingenommen (BVerfG NJW 1992, 1377). 

Redaktion beck-aktuell, 4. Mai 2017.