OLG Karlsruhe: Verlängerung der Auslieferungshaft infolge der COVID-19-Pandemie

GG Art. 2 II; IRG §§ 26, 83c IV, V, 83d

Die COVID-19-Pandemie stellt einen außergewöhnlichen Umstand dar, welcher bei einer Auslieferung an einen Mitgliedstaat der EU die Aussetzung von Überstellungsfristen rechtfertigen kann.

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27.03.2020 - Ausl. 301 AR 47/20, BeckRS 2020, 4973

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Thomas C. Knierim, Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 08/2020 vom 16.04.2020

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Sachverhalt

Seit seiner vorläufigen Festnahme am 13.3.2020 befindet sich der Verfolgte S. in vorläufiger Auslieferungshaft, die der 1. Strafsenat des OLG mit Beschluss vom 17.3.2020 auch bestätigt hat. Die italienischen Justizbehörden suchten ihn im Schengener Informationssystem (SIS II - A-Formular), weil der Verfolgte durch rechtskräftiges Urteil des Gerichts in A./Italien vom 5.10.2016 wegen illegalem Handel mit Drogen und psychotropen Stoffen in großen Mengen zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt wurde. Diese stehen noch vollständig zur Vollstreckung an. Der durch einen Rechtsbeistand vertretene S. hat seiner Auslieferung nach Italien am 20.3.2020 vor dem Amtsgericht B./Deutschland zugestimmt, weshalb die Generalstaatsanwaltschaft diese am 23.3.2020 bewilligt hat. Sie hat jedoch keinen Termin zur Übergabe vereinbart, sondern mitgeteilt, dass aufgrund der weltweiten, durch das Virus COVID-19 verursachten Pandemielage die Überstellung des Verfolgten bis zum 30.4.2020 aufgeschoben sei und danach die Lage neu zu bewerten wäre. Der 1. Strafsenat ordnete daraufhin die Verlängerung der Auslieferungshaft an.

Entscheidung

Die nach §§ 24, 26 IRG von Amts wegen durchgeführte Haftprüfung führte zur Anordnung der Fortdauer der vorläufigen Auslieferungshaft.

1. Zwar sei nach der Bewilligung der Auslieferung mit dem ersuchenden Mitgliedstaat grundsätzlich sogleich ein Termin zur Übergabe des Verfolgten zu vereinbaren, wobei der Übergabetermin spätestens zehn Tage nach der Entscheidung über die Bewilligung liegen soll (§ 83c IRG i.V.m. Art. 23 Abs. 2 Rb-EuHB). Allerdings könne in Fällen, in welchen die Einhaltung des Termins aufgrund von Umständen unmöglich sei, die sich dem Einfluss des ersuchenden Mitgliedstaates entziehen, ein neuer Übergabetermin innerhalb von zehn Tagen vereinbart werden. Falls dies nicht möglich sei, sei der Verfolgte zwar aus der Auslieferungshaft zu entlassen (§ 83d IRG), jedoch könne die Vereinbarung eines solchen Übergabetermins im Hinblick auf eine gegen den Verfolgten im Geltungsbereich dieses Gesetzes laufende strafrechtliche Verfolgung oder Vollstreckung oder aus schwerwiegenden humanitären Gründen aufgeschoben werden (§ 83d Abs. 4 Satz 4 IRG). Allerdings hatte die Generalstaatsanwaltschaft mit den italienischen Justizbehörden keinen Übergabetermin vereinbart oder zu vereinbaren versucht.

2. Der Senat hält die Vorgehensweise infolge der COVID-19 Pandemie für gerechtfertigt und hebt die Haftanordnung nicht auf. Gem. § 83c Abs. 5 IRG sei es möglich, wegen besonderer Umstände die eine Überstellung verzögern können, die Haft zu verlängern, zugleich müsse die Bundesregierung EuroJust von den Gründen der Verzögerung in Kenntnis setzen. Nach Mitteilung des Bundesministeriums der Justiz vom 27.3.2020 gelte in Italien derzeit (Stand: 23.3.2020) aufgrund der aktuellen Krankheitswelle mit der COVID-19-Pandemie eine Notfallverordnung, welche auch für aus dem Ausland einreisende Personen gelte (vgl. hierzu auch die Hinweise des Auswärtigen Amtes unter: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/italiennode/italiensicherheit/211322). Diese Beschränkungen wirken sich auch auf den Auslieferungsverkehr mit Italien aus, weshalb Sirene Italien aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Zusammenhang mit COVID-19-Pandemie verpflichtet worden sei, alle Einlieferungen nach Italien zu verschieben, um jegliches Risiko für die Passagiere, die Verfolgten und die eingesetzten Beamten zu vermeiden. Aus diesem Grund habe SIRENE Italien die zuständigen deutschen Behörden um grundsätzliche Verschiebung geplanter Überstellungen nach Italien und somit um Verlängerung der Frist zur Übergabe um mindestens 30 Tage ersucht. Der Senat entscheidet sich daher zu einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung, indem er Art. 23 Abs. 4 RB-EuHB heranzeiht, nach dessen Wortlaut außergewöhnliche Umstände, vor allem schwerwiegende humanitäre Gründe eine Verzögerung der Überstellung ermöglichen, wobei sich aus der dort nur beispielhaft erfolgten Erwähnung der Gefahren für Leib und Leben des Verfolgten selbst ergibt, dass die eine fristgemäße Überstellung des Verfolgten entgegenstehenden schwerwiegenden humanitären Gründe nicht auf seine Person beschränkt sein müssen, sondern auch - wie vorliegend - mit der in Zusammenhang mit der COVID-19-Epedemie verbundenen allgemeinen Ansteckungsgefahren begründet sein können. Für eine solche Auslegung spricht auch der Umstand, dass vorliegend weder der ersuchende noch der ersuchte Staat die derzeit nicht mögliche Überstellung zu vertreten haben, sondern es sich um ein unabwendbareres Ereignis handelt.

3. Die damit festzustellende Fristüberschreitung bei der Überstellung führe - mit Ausnahme der Sonderregelung des § 83d IRG - für sich gesehen zwar nicht zu einer Haftentlassung des Verfolgten, es sei jedoch stets zu prüfen, ob es zu vermeidbaren Verzögerungen bei der Überstellung gekommen ist und insbesondere ob die Fortdauer der vorläufigen Auslieferungshaft noch verhältnismäßig ist. Dies sei angesichts der zu vollstreckenden Strafe der Fall. Indessen weist der Senat auch weiter darauf hin, dass ein Europäischer Haftbefehl vorzulegen sei, falls innerhalb der nächsten zwei Monate keine Überstellung nach Italien möglich sein sollte.

Praxishinweis

Die bemerkenswerte Entscheidung überzeugt nicht in allen Begründungselementen. Die Auslieferung zur Vollstreckung an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union (§ 81 IRG) ist auf der Grundlage der in § 10 IRG genannten Unterlagen oder einem Europäischem Haftbefehl möglich (§ 83a Abs. 1 IRG). Es wird unterstellt, dass die hier zugrunde liegende Ausschreibung zur Festnahme im SIS den Anforderungen des § 83a Abs. 2 IRG entsprach. Bewilligungshindernisse (§ 83b IRG) lagen nicht vor, ersichtlich auch keine fallbezogenen Überstellungsprobleme (§ 83c Abs. 4 S. 1 IRG). Vielmehr hat die Generalstaatsanwaltschaft die Überstellung erst gar nicht versucht. Sowohl die Generalstaatsanwaltschaft als auch der Strafsenat führen dafür eine allgemeine „globale" Gefahrenlage an, die als Gesamtgefährdung für Einsatzkräfte, Personal und den Verfolgten eingestuft wird. Diese soll ausreichender Grund im Sinne von § 83c Abs. 4 IRG, Art. 23 Abs. 4 Rb-EuHB für die Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft sein. Aus innerstaatlicher deutscher Sicht ist aber die mit der Auslieferungshaft verbundene Freiheitsentziehung gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nur dann zulässig, wenn eine gesetzliche Grundlage dafür besteht. Gleiches ergibt sich aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK. Ein von dem Art. 23 Abs. 4 Rb-EuHB gedeckter Haftgrund einer „prospektiven" Infektionsgefahr von Überstellungsbeamten ist dort weder geregelt noch so in das deutsche Recht übertragen worden (§ 83c Abs. 4 S. 4 IRG), weil das Rechtshilferecht nicht die Funktionsfähigkeit der Justizorgane des ersuchenden Staates schützt, sondern den Freiheitsanspruch des Einzelnen zu wahren hat. Auch gem. § 83c Abs. 5 IRG ist kein Abstellen auf die Funktionsunfähigkeit der Justizorgane des ersuchenden Staates möglich, wie sich aus § 83d IRG ergibt, wonach der Haftbefehl aufzuheben ist und der Verfolgte aus der Auslieferungshaft zu entlassen ist, wenn die Überstellung nicht bewirkt werden kann. Vielmehr setzt § 83c Abs. 5 IRG nur die Informationspflicht aus Art. 17 Abs. 7 S. 1 Rb-EuHB um (vgl. Hackner in Schomburg/Lagodny, IRG, 6. Aufl. 2020, § 83c Rn. 8) um. Ob überhaupt im konkreten Fall die Justizorgane in Italien durch die COVID-19-Pandemie gestört sind, haben weder die Generalstaatsanwaltschaft noch der Strafsenat anfragen lassen. Es liegt nicht im Risikobereich eines Verfolgten, etwaige Funktionseinschränkungen oder Störungen des staatlichen Justizapparats hinzunehmen. Gleichwohl anerkennt die ganz herrschende Meinung eine Verlängerung der Auslieferungshaft, wenn eine dem Verfolgten drohende Gesundheitsgefahr bejaht werden kann (Böse in: Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Auflage 2012 § 83c Rn. 10; Hackner, aaO. Rn. 9). Dies erscheint auch im vorliegenden Fall die (einzige) geeignete Grundlage für die Fortdauer der Auslieferungshaft zu sein.

Redaktion beck-aktuell, 20. April 2020.