OLG Nürnberg: Aufhebung des Untersuchungshaftbefehls bei verzögerter Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls im Rechtsmittelverfahren

GG Art. 2 II 2; EMRK Art. 5 III 2

1. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Erstellung eines kompletten Hauptverhandlungsprotokolls im unmittelbaren Anschluss an die Hauptverhandlung und damit parallel zur Erstellung der Urteilsgründe erfolgt. (Leitsatz des Gerichts)

2. Es ist mit dem Beschleunigungsgebot unvereinbar, wenn vom Tag der Urteilsverkündung bis zur Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls fünfeinhalb Monate vergehen. (Leitsatz der Redaktion)

OLG Nürnberg, Beschluss vom 28.09.2018 - 2 Ws 645/18, BeckRS 2018, 25539

Anmerkung von 
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht und Steuerrecht, Björn Krug, LL.M. (Wirtschaftsstrafrecht), Ignor & Partner GbR, Berlin und Frankfurt a.M.

Aus beck-fachdienst Strafrecht 22/2018 vom 08.11.2018

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Sachverhalt

Der A befindet sich aufgrund des Haftbefehls des AG vom 16.12.2016 nach seiner Auslieferung aus Polen seit 22.2.2017 in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl vom 16.12.2016 wurde zunächst durch den Haftbefehl des LG vom 9.5.2017 ersetzt. Mit der Verurteilung des A durch das LG am 22.2.2018 zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren sechs Monaten wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen erließ das LG am gleichen Tag zudem einen neuen Haftbefehl. Gegen das Urteil hat der A Revision eingelegt, sodass es nicht rechtskräftig ist. Das unterschriebene Urteil gelangte am 23.5.2018 zu den Akten. Das Protokoll der Hauptverhandlung wurde durch den Vorsitzenden der 1. Strafkammer des LG am 9.8.2018 fertiggestellt. Mit Verfügung vom gleichen Tag ordnete der Vorsitzende die Zustellung des Urteils und des Protokolls an. Die Verfügung wurde seitens der Geschäftsstelle am 16.8.2018 ausgeführt. Die Zustellung an die Verteidiger des A erfolgte letztlich am 20.8.2018 und 21.8.2018. Mit Schreiben seiner Verteidiger vom 5.9.2018 und 7.9.2018 legte der A Beschwerde gegen den Haftbefehl des LG vom 22.2.2018 ein und beantragte wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen die Aufhebung. Das LG hat der Haftbeschwerde mit Beschluss vom 11.9.2018 nicht abgeholfen. Mit Schreiben vom 13.9.2018 hat die GenStA beantragt die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Der Senat hat mit Verfügung vom 20.9.2018 den Vorsitzenden der 1. Strafkammer des LG um dienstliche Stellungnahme gebeten, weswegen das Protokoll erst am 9.8.2018 fertiggestellt werden konnte. In seiner dienstlichen Stellungnahme vom 25.9.2018 führte der Vorsitzende der 1. Strafkammer des LG im Wesentlichen aus, dass die Fertigstellung des Protokolls durch mehrfache notwendige Korrekturen bis zum 9.8.2018 gedauert hat.

Entscheidung: Aufhebung des Haftbefehls bei erheblichen Verzögerungen aufgrund vermeidbarer Fehler der Justizorgane

Die zulässige Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache Erfolg. Der an sich gerechtfertigte Haftbefehl sei aufzuheben, da das Verfahren nach Erlass des Urteils vom 22.2.2018 nicht die in Haftsachen gebotene, auf den Freiheitsanspruch gemäß Art. 2 II 2 GG und Art. 5 III 2 EMRK beruhende Beschleunigung erfahren hat.

Mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot sei es vorliegend unvereinbar, dass der Vorsitzende der 1. Strafkammer des LG das Hauptverhandlungsprotokoll erst am 9.8.2018 fertiggestellt hat und Urteil und Protokoll erst am 20./21.8.2018 an die Verteidiger zugestellt wurden. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sei stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 II 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich dürfe nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen sei wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG hat und auch in Art. 6 II EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei müsse den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch eines noch nicht rechtskräftig verurteilten Angeklagten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Besondere Bedeutung komme in diesem Zusammenhang dem im Grundrecht der Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) verankerten Beschleunigungsgebot in Haftsachen zu. Dieses verlange, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine abschließende Entscheidung über den Anklagevorwurf mit der gebotenen Schnelligkeit herbeizuführen. Komme es aufgrund vermeidbarer Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verzögerung, so stehe dies der Aufrechterhaltung des Haftbefehls regelmäßig entgegen. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe Grenzen setzt und gleichzeitig zu beachten, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruches gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößert. In diesem Zusammenhang verlange das Beschleunigungsgebot in Haftsachen auch, dass die Erstellung eines kompletten Hauptverhandlungsprotokolls im unmittelbaren Anschluss an die Hauptverhandlung und damit parallel zur Erstellung der Urteilsgründe erfolgt.

Bei Beachtung dieser Vorgaben und des Umstandes, dass sich der A zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung seit einem Jahr und zwischenzeitlich seit einem Jahr und sieben Monaten in Untersuchungshaft befindet, sei das Verfahren vor dem LG nach Urteilsverkündung dadurch erheblich verzögert worden, dass eine Fertigstellung des Protokolls nicht bereits zum 23.5.2018 erfolgt ist. Vom Tag der Urteilsverkündung am 22.2.2018 bis zur Fertigstellung des Protokolls am 9.8.2018 seien fünfeinhalb Monate vergangen. Selbst ab dem 23.5.2018, dem Zeitpunkt an dem das Urteil zur Geschäftsstelle gelangt ist, habe die Fertigstellung des Protokolls noch zwei Monate und 17 Tage gedauert, bis zur Zustellung des Urteils und des Protokolls an die Verteidiger sogar knapp drei Monate. Der Fortgang des Revisionsverfahrens habe sich dadurch erheblich verzögert, da die Revisionsbegründungsfrist erst mit der Urteils- und Protokollzustellung an die Verteidiger zu laufen begonnen hat. Die verspätete Fertigstellung des Protokolls sei sachlich nicht gerechtfertigt und vermeidbar. Auch bei einem Umfang – wie vorliegend – von 274 Seiten habe für die Prüfung und Korrektur des Protokolls vom 22.2.2018 bis 23.5.2018 ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden. Es spiele in diesem Zusammenhang auch keine Rolle, ob letztendlich der Vorsitzende oder die Protokollführer für die eingetretene Verzögerung verantwortlich waren. Die Verzögerung ist jedenfalls allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des A zuzurechnen. Die Erklärungen, die der Vorsitzende der 1. Strafkammer in seiner dienstlichen Stellungnahme vom 25.9.2018 für die Dauer der Fertigstellung des Protokolls abgegeben hat, könnten zu keiner anderen Beurteilung führen.

Praxishinweis

Dem OLG Nürnberg ist uneingeschränkt zuzustimmen. Die Grundlagen der Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen sind eigentlich ganz einfach: Kommt es zu einer vermeidbaren Verzögerung, die dem Betroffenen nicht zuzurechnen ist, dann kann die Untersuchungshaft gegen ihn nicht aufrechterhalten bleiben (BVerfG BeckRS 2017, 136740). In der Praxis sind die Obergerichte aber doch häufig sehr viel geduldiger, eine Vorhersehbarkeit fällt daher – von krassen Ausnahmen abgesehen – schwer. Im vorliegenden Fall war die Geduld des Senats jedenfalls zu Recht erschöpft. Schon die Urteilsabsetzungsfrist nach § 275 I StPO ist eine Höchstfrist, die es vor allem in Haftsachen nicht auszuschöpfen gilt (BVerfG NStZ 2006, 295). Erst recht gibt es keine sinnvolle Rechtfertigung dafür, dass das Hauptverhandlungsprotokoll weitere Monate zu seiner Fertigstellung gebraucht haben soll.

Redaktion beck-aktuell, 13. November 2018.