VG Augsburg: Anscheinsgefahr genügt für Platzverweis und Kontaktverbot

VwGO § 80 II 1 Nr. 2, V; GG Art. 13; PAG Art. 4, 11 IV 2, 16 I, 23 I, II

1. Die Gefahrenprognose für einen Platzverweis muss auf erkennbaren Umständen, also Tatsachen, Sachverhalten oder sonstigen greifbaren Anhaltspunkten beruhen, wobei auf eine „ex ante" Sicht abzustellen ist.

2. Stellt sich nachträglich heraus, dass nur eine Anscheinsgefahr vorlag, muss die Gefahreinschätzung dem Urteil eines fähigen, besonnenen und sachkundigen Amtswalters entsprechen, damit eine Anscheinsgefahr einer objektiven Gefahr gleichsteht und ein polizeiliches Einschreiten rechtfertigt. (Leitsätze der Redaktion)

VG Augsburg, Beschluss vom 30.08.2018 - Au 8 S 18.1436, BeckRS 2018, 23144

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Dr. Christian Rathgeber, Mag. rer. publ., Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 20/2018 vom 11.10.2018

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Sachverhalt

Der Antragsteller (A) begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen einen ihm erteilten Platzverweis sowie gegen ein ihm erteiltes Kontaktverbot. Im August 2018 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen A und seiner Lebensgefährtin, der Beigeladenen (B). Diese erstattete daraufhin gegen A unter Vorbehalt Strafanzeige und gab ua an, A habe aus Wut die Kinderzimmertüre, das Handy und ihren Laptop beschädigt. Aus Angst vor weiteren Übergriffen sei sie aus der gemeinsamen Wohnung geflohen. Sie habe große Angst, nach Hause zu gehen, da A ihr gegenüber schon in der Vergangenheit handgreiflich geworden sei. Die Polizei sprach A ggü. einen Platzverweis sowie ein Kontaktverbot aus, wonach dieser sich für ca. 2 Wochen nicht in der gemeinsam bewohnten Immobilie aufhalten beziehungsweise diese betreten und weder mit B noch den Kindern in Kontakt treten durfte. Bei ihrer Vernehmung bestätigte B wenige Tage später die zuvor gemachten Angaben und trug ergänzend zu vergangenen körperlichen Übergriffen des A ihr gegenüber vor. A erhob sodann Klage und beantragt, Platzverweis und Kontaktverbot aufzuheben. Über die Klage ist noch nicht entschieden.

Rechtliche Wertung

Der Antrag sei in der Sache teilweise begründet. Gemäß Art. 11 IV 2 PAG iVm Art. 16 I 1 Nr. 1 PAG könne die Polizei zur Abwehr einer Gefahr eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Orts verbieten. Im Hinblick auf Art. 13 GG sei der gegen einen Wohnungsinhaber gerichtete Platzverweis aus seiner eigenen Wohnung über den Wortlaut des Art. 16 PAG hinaus nur zulässig, soweit zusätzlich die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 23 I 1 Nr. 3, II PAG vorlägen, dh wenn das zur Abwehr einer dringenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut erforderlich sei (Art. 23 I 1 Nr. 3 PAG). Während der Nachtzeit (§ 104 III StPO) sei eine gegenwärtige Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut erforderlich (Art. 23 II PAG). Gemessen hieran lägen die Voraussetzungen für einen vorübergehenden Platzverweis gegenüber A vor. Die für die Anordnung eines Platzverweises während der Nachtzeit erforderliche gegenwärtige Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut liege vor. Die Gefahrenprognose müsse dabei auf erkennbaren Umständen, also Tatsachen, Sachverhalten und sonstigen greifbaren Anhaltspunkten beruhen, ein bloßer Verdacht oder bloße Vermutungen reichten nicht. Dabei sei für die gerichtliche Beurteilung der Gefahrenlage auf eine „ex ante" Sicht abzustellen. Habe der handelnde Amtsträger die Lage – ex ante gesehen – zutreffend eingeschätzt, dann werde die getroffene Maßnahme – ex post betrachtet – nicht dadurch rechtswidrig, dass die Entwicklung anders als prognostiziert verlaufen sei. Stelle sich nachträglich heraus, dass keine wirkliche Gefahr vorgelegen habe, sondern nur der Anschein einer Gefahr erweckt worden sei, komme es darauf an, ob die Gefahreinschätzung dem Urteil eines fähigen, besonnenen und sachkundigen Amtswalters entspreche. Die bei verständiger Würdigung der erkennbaren Umstände bestehende Anscheinsgefahr stehe einer objektiven Gefahr gleich und rechtfertige ein polizeiliches Einschreiten. Die Tatsachen, die dem Gericht derzeit vorlägen und die iRd Eilverfahrens zu würdigen seien, ließen den gegenüber A ausgesprochenen Platzverweis nach diesen Grundsätzen als rechtmäßig erscheinen. Es lägen konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass A die B auch zukünftig bedrohen oder verletzen werde. Vor dem Hintergrund der Schilderungen der B gegenüber der Polizei sei die von den handelnden Polizeibeamten ex-ante getroffene Gefahrenprognose nicht zu beanstanden. Vielmehr rechtfertigten diese Tatsachen die Annahme, dass es zu weiteren Auseinandersetzungen zwischen A und B kommen werde. Das bei den bisherigen Auseinandersetzungen gezeigte aggressive Verhalten des A rechtfertige zudem die Prognose, dass A auch bei den zu befürchtenden neuerlichen Auseinandersetzungen handgreiflich gegenüber B werden würde. Dafür spreche auch die Tatsache, dass A sogar gegenüber den Polizeibeamten in Rage geraten sei. Dabei sei insbes. der Grundsatz zu beachten, dass die Anforderungen für die Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts umso geringer sein könnten, je größer der möglicherweise eintretende Schaden sei. Diese Gefahr bestehe auch für das bedeutende Rechtsgut der Gesundheit, Art. 11 III 2 Nr. 2 PAG. Aufgrund der Handgreiflichkeiten des A gegenüber der B in der Vergangenheit liege eine Gefahr für deren körperliche Unversehrtheit vor. Der Platzverweis genüge auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Art. 4 PAG. Von entscheidender Bedeutung sei im vorliegenden Fall, wie lange die Maßnahme andauere. Ab einem bestimmten Zeitpunkt seien die Beschränkungen der Rechte des A nicht mehr verhältnismäßig. Es könne nicht Aufgabe der Polizei sein, häusliche Konflikte auf Dauer zu regeln und die notwendige Privatinitiative unbegrenzt zu suspendieren. Das hier auf einen Zeitraum von 14 Tagen befristete Betretungsverbot überschreite die durch das Übermaßverbot gezogene Grenze nicht. Die gewählte Dauer der Maßnahme sei ausreichend und angemessen, um zivilrechtlichen Rechtsschutz nach dem Gewaltschutzgesetz in Anspruch zu nehmen.

Auch das hinsichtlich der B angeordnete Kontaktverbot sei voraussichtlich rechtmäßig und A daher nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 I 1 VwGO). Die Voraussetzungen des Art. 16 II 1 Nr. 1 PAG lägen vor und das Kontaktverbot stelle sich somit als rechtmäßig dar. Soweit das Kontaktverbot auch hinsichtlich der im selben Haushalt lebenden Kinder angeordnet worden sei, sei es jedoch voraussichtlich rechtswidrig. Den tatsächlichen Feststellungen der Polizeibeamten in der Wohnung des A nach hätten die Kinder in ihren Betten geschlafen und die Wohnung habe sich in einem sauberen Zustand befunden. Das Allgemeinbild der Situation habe nach den Einschätzungen der Polizisten nicht auf eine Gefährdung des Kindeswohls schließen lassen. Auf Grundlage dieser Feststellungen sei eine konkrete Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut der Kinder (Art. 16 II 1 Nr. 1 PAG) nicht zu bejahen.

Praxishinweis

Platzverweise und Kontaktverbote sind im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt eine häufig gewählte Gefahrenabwehrmaßnahme. Unabhängig davon, ob er für die Maßnahme selbst den Anlass gesetzt hat, bedeutet der zeitweise Verlust seiner Wohnung sowie des Kontakts zur Familie für den jeweils Betroffenen eine erhebliche Belastung. Werden solche Maßnahmen – wie vorliegend – zunächst allein aufgrund angeblicher Sachbeschädigungen in der Wohnung verhängt, wäre von den eingesetzten Beamten zumindest eine oberflächliche Verifizierung zu erwarten gewesen. So hätten etwa die detailliert beschriebenen Schäden an der Kinderzimmertür schon deshalb auffallen müssen, weil die Beamten offenkundig das Befinden der Kinder dort kontrollierten. Wird dagegen nicht einmal mit einfachsten Ermittlungen versucht, die Gefahrenprognose zu stützen, erscheint der spätere Verweis auf eine Anscheinsgefahr als bedenklich.

Redaktion beck-aktuell, 17. Oktober 2018.