BGH: Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts trotz wütender Spontanäußerung und gleichzeitiger Urteilskritik

StPO § 302 I 1

1. Die Erklärung des Angeklagten, er nehme das Urteil an, enthält in der Regel einen Rechtsmittelverzicht, wobei dessen Wirksamkeit weder entgegensteht, dass die Erklärung in emotional aufgewühltem Zustand abgegeben wird, noch, dass sie mit inhaltlicher Kritik an dem Urteil einhergeht.

2. Hat der Angeklagte selbst auf Rechtsmittel verzichtet, entfaltet ein später eingelegtes Rechtsmittel des Verteidigers keine Wirkung. (Leitsätze des Verfassers)

BGH, Beschluss vom 03.07.2018 - 4 StR 227/18, BeckRS 2018, 16744

Anmerkung von 
Wiss. Mitarbeiter Benedikt Kohn, Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 16/2018 vom 16.08.2018

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Sachverhalt

Das Landgericht (LG) hat den Angeklagten (A) wegen Mordes in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge und mit Brandstiftung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Ferner hat es die besondere Schwere der Schuld festgestellt und die Unterbringung des A in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung und der Rechtsmittelbelehrung hat A erklärt, dass er das Urteil „sofort annehmen wolle“; er „bestehe darauf“, das Urteil anzunehmen. Gleichzeitig hat er geäußert, dass der Vorsitzende „ein Märchen“ erzählt habe und dass er, der A, kein Mörder sei. Nach dem Hinweis des Vorsitzenden, dass sich aus diesem Zusatz ergebe, dass A mit dem Urteil nicht einverstanden sei, hat dieser geäußert, dass er „ja doch keine Chance habe“ und das Urteil deshalb annehmen wolle. Auf den weiteren Hinweis des Vorsitzenden, dass sich A dies überlegen solle, hat dieser erneut geäußert, dass er „darauf bestehe“, das Urteil anzunehmen. Sein Verteidiger legte später Revision gegen das Urteil ein und stützte sich auf die Verletzung materiellen Rechts.

Rechtliche Wertung

Die Revision des A hat der BGH als unzulässig verworfen, da A nach Verkündung des Urteils in der Hauptverhandlung einen wirksamen Rechtsmittelverzicht erklärt habe. Für das Vorliegen eines Rechtsmittelverzichts komme es nicht darauf an, dass das Wort „verzichten“ benutzt werde, sondern maßgeblich sei der Gesamtsinn der Erklärung. Die Erklärung, das Urteil werde „angenommen“, enthalte regelmäßig einen Rechtsmittelverzicht. Vorliegend seien die mehrfachen und unmissverständlichen Erklärungen des A, er wolle das Urteil annehmen, eindeutig in dem Sinne zu verstehen, dass auf die Einlegung von Rechtsmitteln verzichtet worden sei. Es sei auch nichts dafür ersichtlich, dass es sich um eine bloß in die Zukunft gerichtete Absichtserklärung gehandelt habe, zumal A erklärt habe, das Urteil „sofort“ annehmen zu wollen, und ausdrücklich abgelehnt habe, sein Vorgehen zu überdenken. Die zusätzlichen Äußerungen des A, wonach er kein „Mörder“ sei und der Vorsitzende „ein Märchen“ erzählt habe, stünden der Annahme eines Rechtsmittelverzichts nicht entgegen, da ein solcher nicht voraussetze, dass das verkündete Urteil für inhaltlich richtig gehalten werde. Zudem habe A seinen Verzichtswillen auch noch nachdrücklich geäußert, nachdem ihn der Vorsitzende auf Bedenken am Vorliegen eines Rechtsmittelverzichts hingewiesen habe. Spätestens hierdurch seien etwaige Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Erklärung ausgeräumt worden. Ebenso wenig stelle es die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts in Frage, wenn es sich bei der Erklärung des A um eine wütende Spontanäußerung gehandelt haben sollte; auch der in emotionaler Aufgewühltheit erklärte Rechtsmittelverzicht sei wirksam. Vorliegend komme hinzu, dass der strafrechtlich erheblich vorbelastete A in der Vergangenheit wiederholt zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt und bereits zweimal seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden sei – er mithin gerichtserfahren sei und sich nicht erstmals mit einer gravierenden Verurteilung konfrontiert gesehen habe. Auch der Verteidiger habe nicht zu erkennen gegeben, dass bezüglich der Frage eines einzulegenden Rechtsmittels noch Erörterungsbedarf bestünde, was der Wirksamkeit des Verzichts des A hätte entgegenstehen können Vielmehr habe der Verteidiger ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls keine Erklärung abgegeben. Dass die Erklärung des A in der Hauptverhandlung nicht vorgelesen und genehmigt worden sei, sei für ihre Wirksamkeit ebenfalls ohne Belang; dieser Umstand betreffe lediglich die Frage des Nachweises. Vorliegend sei die inhaltliche Richtigkeit des Hauptverhandlungsprotokolls von keinem Verfahrensbeteiligten in Frage gestellt worden. Angesichts der Unmissverständlichkeit der protokollierten Äußerungen des A habe es auch keiner weiteren Nachforschungen durch den Senat bedurft. Durch den wirksamen Rechtsmittelverzicht sei das Urteil des LG rechtskräftig geworden. Infolge eines von dem A selbst erklärten Rechtsmittelverzichts sei auch ein später eingelegtes Rechtsmittel des Verteidigers wirkungslos. Die Revision sei daher als unzulässig zu verwerfen gewesen.

Praxishinweis

Der BGH sieht in den Aussagen des A nach der Hauptverhandlung einen wirksamen Rechtsmittelverzicht und setzt mit dieser Entscheidung seine strenge Linie konsequent fort. Eine vom A abgegebene Erklärung, die eindeutig dahingehend zu verstehen ist, er akzeptiere das Urteil, stellt in stRspr einen Rechtsmittelverzicht dar. Die Wirksamkeit einer solchen Erklärung ist unabhängig von der Gefühlslage des Angeklagten und findet ihre Grenzen – außerhalb einer Verständigung – lediglich in dessen Verhandlungsfähigkeit sowie dem Gebot eines fairen Verfahrens (vgl. BGH NStZ-RR 2017, 186). Neu ist hingegen die Kombination einer auslegungsbedürftigen Erklärung in stark aufgewühlter emotionaler Lage mit inhaltlicher Kritik am Urteil. In einer solchen Konstellation werden hohe Anforderungen an die Feststellung der Eindeutigkeit und Ernsthaftigkeit einer Verzichtserklärung im konkreten Einzelfall zu stellen sein. Zwar ist es richtig, dass der Wille, ein Urteil anzunehmen, nicht zwingend mit der Akzeptanz seines materiellen Inhalts zusammenfallen muss. Je vehementer sich ein Verurteilter jedoch gegen diesen wehrt, desto wahrscheinlicher scheint es, dass er sich der Tragweite seiner prozessualen Erklärung im Moment der Äußerung nicht vollständig bewusst ist. Hier ist auch der Verteidiger in der Pflicht, seinen Mandanten in einer emotionalen Ausnahmesituation vor unüberlegten Erklärungen zu schützen.

Redaktion beck-aktuell, 22. August 2018.