LG Augsburg: Keine Durchsuchung nach pauschalen anonymen Hinweisen

GG Art. 13 I

1. Anonyme Anzeigen rechtfertigen grundsätzlich keinen Anfangsverdacht.

2. Bei der Abwägung, ob in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen werden darf, ist auch die Unschuldsvermutung zu beachten.

LG Augsburg, Beschluss vom 12.09.2017 - 1 Qs 339/17, BeckRS 2017, 129942

Anmerkung von
Rechtsanwalt David Püschel, Knierim & Krug Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 23/2017 vom 23.11.2017

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Sachverhalt

Am 24.7.2017 ist beim Polizeipräsidium ein datumsloses und nicht unterschriebenes handschriftlich gefertigtes Schreiben eingegangen. Dieses hat gelautet: „Die Pädophilen sind überall. So ist mir bekannt, dass auch in D. die Pädophilen ihr Unwesen treiben. Besonders Herr … und sein Sohn vertreiben Kinderpornographie der übelsten Art. Der Computer ist im Keller versteckt“. Die zuständige KPI hat festgestellt, dass die namentlich benannten Personen tatsächlich existiert haben, dass aber deren Wohnadresse falsch angegeben worden ist. Die StA hat Auszüge aus dem BZR eingeholt, aus denen sich jeweils ergeben hat, dass dort keine Eintragungen enthalten gewesen sind. Sodann hat sie den Erlass dreier Durchsuchungsbeschlüsse für Wohn- und Geschäftsanwesen der Beschuldigten beantragt. Auf entsprechenden Hinweises des Ermittlungsrichters des AG, dass ein anonymer Hinweis nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Regel nicht genüge, einen Anfangsverdacht zu begründen, hat die StA auf ihrem Antrag beharrt. Dieser ist durch Beschluss vom 21.8.2017 abgelehnt worden.

Das AG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Hiergegen hat sich die Beschwerde der StA vom 30.8.2017 gerichtet, die im Wesentlichen damit begründet worden ist, dass der Standort eines Computers - „im Keller“ - angegeben worden sei und deshalb die Anzeige über eine pauschale anonyme Anzeige hinausgehe.

Rechtliche Wertung

Die Beschwerde gegen die Ablehnung der drei beantragten Durchsuchungsbeschlüsse ist zwar zulässig, aber unbegründet. Bei der vorliegenden Sachlage könne schon kein Anfangsverdacht angenommen werden. Es gäbe kein einziges, auf irgendeine Art und Weise objektivierbares Indiz, das einen Tatverdacht gegen die Beschuldigten begründen könne. Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Artikel 13 I GG gebiete, dass nur dann in den daraus resultierenden Schutzbereich eingegriffen werden dürfe, wenn hierfür konkrete tatsächliche Anhaltspunkte bestehen. Im Einklang mit der eindeutigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeute dies, dass eine anonyme Anzeige grundsätzlich nicht ausreiche einen Anfangsverdacht zu begründen. Jegliche andere Sichtweise würde dem Denunziantentum Tür und Tor öffnen. Es sei mit der Rechtsordnung und dem Wertesystem der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar, wenn allein aufgrund einer anonymen Behauptung Durchsuchungen bei bislang völlig unbescholtenen Bürgern erfolgen.

Insoweit habe die StA auch die Unschuldsvermutung zu beachten. Soweit die StA die anonyme Anzeige rechtsirrig für nicht pauschal erachte, weil eine Adresse angegeben und als Standort eines Computers der Keller genannt worden sei, verkenne sie, dass sich aus derart nichtssagenden Angaben bei objektiver Betrachtung keinerlei Erkenntnisse ergeben, die einen Verdacht begründen oder erhärten können. Daraus, dass ein Haus einen Keller habe, lasse sich jedenfalls kein Schluss darauf ziehen, dass kinderpornographische Schriften vertrieben werden. Und die Behauptung, dort sei ein Computer, sei genauso pauschal gehalten, wie die Beschuldigung selbst. Rückschlüsse auf den Wahrheitsgehalt der anonymen Anzeige ließen sich hieraus nicht ziehen. Anders als bei namentlich gekennzeichneten Anzeigen, setze sich ein anonymer Anzeigeerstatter nicht der Strafverfolgung wegen falscher Verdächtigung und übler Nachrede aus. Weder die Glaubwürdigkeit des Anzeigeerstatters noch die Glaubhaftigkeit seiner Angaben sei für die Ermittlungsbehörden einschätzbar. Das Bundesverfassungsgericht habe zu Recht dargelegt, dass eine anonyme Anzeige nur genügen könne, „wenn sie von beträchtlicher sachlicher Qualität ist oder mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt wird.“ Beides sei im vorliegenden Fall so offensichtlich nicht gegeben, dass sich die Frage stelle, ob die Einleitung eines förmlichen Ermittlungsverfahrens im vorliegenden Fall überhaupt zulässig gewesen sei, zumal bereits Form und Diktion der Anzeige im vorliegenden Fall die Glaubhaftigkeit der Behauptungen nicht unterstreichen.

Praxishinweis

Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommt bei der Durchsuchung besondere Bedeutung zu. Die Durchsuchung muss vor allem in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 20, 162). Bei anonymen Anzeigen müssen die Voraussetzungen des § 102 StPO im Hinblick auf die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten wegen der erhöhten Gefahr und des nur schwer bewertbaren Risikos einer falschen Verdächtigung besonders sorgfältig geprüft werden (BVerfG Beschl. v. 14.07.2017 - 2 BvR 274/14).

Es kann daher Erfolg versprechen, Beschwerde gegen Durchsuchungen einzulegen, die auf anonymen Hinweisen beruhen und dringend angezeigt der Verwertung hierbei gewonnener Beweise zu widersprechen. Gleiches kann bei namentlichen Hinweisen geboten sein, wenn diese so lückenhaft oder widersprüchlich sind, dass sie – anders als gelegentlich von den Ermittlungsbehörden angenommen – keinen Anfangsverdacht begründen. Letzterer Aspekt kann und sollte, wenn möglich, am besten durch den Verteidiger bei Beginn einer Durchsuchung unter Hinweis auf die eindeutige Rechtsprechung gerügt werden. Lässt sich der zuständige Richter telefonisch überzeugen, wird dem Betroffenen ein ungerechtfertigter Grundrechtseingriff erspart, zumal auch die Justiz ihre knappen Ressourcen in der Regel sinnvoller einsetzen kann.

Redaktion beck-aktuell, 24. November 2017.