LG Dessau-Roßlau: Beiordnung eines Pflichtverteidigers bei drohendem Bewährungswiderruf und psychischen Störungen

StPO §§ 140 II, 304 I, 306

Dem Angeklagten ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann.

LG Dessau-Roßlau, Beschluss vom 22.09.2017 - 308 Js 27019/16, BeckRS 2017, 128128

Anmerkung von
Rechtsanwalt David Püschel, Knierim & Krug Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 22/2017 vom 09.11.2017

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Sachverhalt

Mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom 19.12.2016 ist der Beschwerdeführerin (B) vorgeworfen worden, auf nicht bekannte Art und Weise ohne Grund eine nicht bekannte Anzahl von Katzenbabys getötet zu haben. Im weiteren Verlauf des Verfahrens hat sich eine Rechtsanwältin (R) als Wahlverteidigerin für B gemeldet und mit Schriftsatz vom 31.1.2017 ihre Bestellung zur Pflichtverteidigerin gemäß § 140 II StPO beantragt. Mit dem nunmehr angegriffenen Beschluss des AG vom 3.2.2017 ist dieser Antrag zurückgewiesen worden. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 15.8.2017 hat B Beschwerde gegen die Nichtbestellung Ihrer Wahlverteidigerin als Pflichtverteidigerin erhoben. Mit Beschluss des AG vom 28.8.2017 ist der Beschwerde nicht abgeholfen worden.

Rechtliche Wertung

Die Beschwerde ist gemäß §§ 304 I, 306 StPO zulässig.

Sie hat auch in der Sache Erfolg. Nach § 140 II StPO sei einem Angeklagten ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheine oder wenn ersichtlich sei, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen könne. Hier gebiete bereits der Umstand, dass B ein sonstiger schwerwiegender Nachteil drohe, hier der Bewährungswiderruf in anderer Sache, die Bestellung eines Pflichtverteidigers. B sei mit Urteil vom 24.3.2014 wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden sei. Die Bewährungszeit, die zwischenzeitlich habe verlängert werden müssen, laufe bis zum 11.4.2019. Mithin habe B innerhalb der Bewährungszeit erneut eine Straftat, wenn auch keine einschlägige, worauf es nicht ankomme, begangen, so dass ihr insoweit ein Bewährungswiderruf drohe. Unter Berücksichtigung auch der im vorliegenden Verfahren drohenden Sanktion erfordere die Schwere der Tat insoweit die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 II StPO.

Hinzu komme, dass Umstände vorliegen, die dafür sprechen, dass B sich nicht selbst verteidigen könne. Nach dem ärztlichen Bericht eines Facharztes für Allgemeinmedizin sei B psychisch und physisch schwer erkrankt. Sie habe wegen psychischer Störungen ihre Wohnung seit 12 Jahren nicht verlassen, sie folge weder Überweisungen noch Einweisungen wegen ihres Angst- und Paniksyndroms. Aufgrund dieser Erkrankung könne nicht ausgeschlossen werden, dass B aufgrund der durch ein Strafverfahren verursachten Belastung und ihres Angst- und Paniksyndroms nicht die erforderliche Aufmerksamkeit aufbringe, um dem Verfahren folgen zu können.

Praxishinweis

Anders als das AG hat das LG zutreffend berücksichtigt, dass B ein Bewährungswiderruf droht und sie in ihrer Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt ist. Beides gebietet schon für sich genommen gemäß § 140 II StPO (regelmäßig) die Bestellung eines Pflichtverteidigers (vgl. LG Dessau-Roßlau, StraFo 2015, 515; LG Flensburg, BeckRS 2013, 10662). Treffen - wie hier - mehrere gewichtige Gründe zusammen, die unter § 140 II StPO fallen, kann an der Bestellung eines Pflichtverteidigers kein Weg vorbei führen.

Redaktion beck-aktuell, 14. November 2017.