LG Aachen: Ungeprüftes, vorsorgliches Ablichten der gesamten Verfahrensakte ist keine ordnungsgemäße Ermessensausübung des Verteidigers

RVG § 56 I 1

1. Es ist dem Verteidiger zuzumuten, digitalisierte Akten „am Bildschirm“ wenigstens daraufhin durchzusehen, ob und welche Teile er für seine weitere Tätigkeit zur sachgerechten Verteidigung des Mandanten auch in Papierform benötigt.

2. Der Verteidiger muss darlegen, welche Teile der Akte notwendigerweise kopiert werden müssen. (Leitsätze der Verfasserin)

LG Aachen, Beschluss vom 15.06.2016 - 61 KLs 22/15, BeckRS 2016, 19689

Anmerkung von 
Rechtsanwältin Astrid Lilie-Hutz, Knierim & Krug Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 24/2016 vom 1.12.2016

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Sachverhalt

Dem Pflichtverteidiger (RA) sind die Ermittlungsakten in dem Verfahren gegen seine Mandantin in digitaler Form zu Verfügung gestellt worden. Er hat die Akten vollständig ausdrucken lassen. Seine Mandantin ist in dem Verfahren nicht in allen die Akten umfassenden Fällen mitangeklagt gewesen. Der RA hat in seinem Kostenfestsetzungsantrag Kopierkosten für den Ausdruck der gesamten Akte geltend gemacht. Diesem Antrag wurde nicht stattgegeben, sodass der RA hiergegen Erinnerung eingelegt hat.

Rechtliche Würdigung

Ein Anspruch des RA auf (pauschalen) Ersatz seiner Auslagen für Kopien aus Gerichtsakten bestehe nur in dem Umfang, wie deren Herstellung zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten ist. Was in diesem Zusammenhang zur „Bearbeitung“ einer Sache sachgemäß sei, bestimme sich nicht nach der subjektiven Auffassung des beigeordneten RA, sondern nach dem objektiven Standpunkt eines vernünftigen sachkundigen Dritten. Es komme dabei auf die Verfahrensart und den konkreten Sachverhalt sowie auf die aktuelle Verfahrenslage an. Eine bloße Erleichterung oder Bequemlichkeit reiche jedoch ebenso wenig, wie eine bloße Zweckmäßigkeit. Allerdings habe der RA einen gewissen, nicht zu engen, sondern eher großzügigen Ermessensspielraum, den er allerdings auch pflichtgemäß handhaben müsse, indem er den allgemeinen Grundsatz kostenschonender Prozessführung berücksichtigen müsse. Der RA könne die Pauschale – auch gegenüber der Staatskasse – nur in Rechnung stellen, soweit die Herstellung der Dokumente zur sachgemäßen Bearbeitung durch ihn geboten war. Die Darlegungs- und Beweislast dafür liege also bei ihm. Das ungeprüfte, vorsorgliche Ablichten der gesamten Verfahrensakte, welche regelmäßig für die Verteidigung in jedem Fall irrelevante Dokumente wie Verfügungen, Empfangsbekenntnisse etc. enthalte, stelle allerdings keine ordnungsgemäße Ermessensausübung des Verteidigers mehr dar. Das Kopieren der gesamten Verfahrensakten könne aus Vereinfachungsgründen durchaus zweckmäßig sein, aber im Rahmen der Prüfung von Kostenerstattungsansprüchen nicht in gleicher Weise als geboten angesehen werden. Nach diesen Grundsätzen habe der RA nicht ungeprüft die gesamte Akte kopieren dürfen. Dies gilt umso mehr, als seine Mandantin nicht in allen Fällen Mitangeklagte gewesen und dem RA eine digitale Hauptakte inklusive Fallakten und Sonderbänden zur Verfügung gestellt worden sei. Es könne dahinstehen, ob das Studium umfangreicher Akten „am Bildschirm“ für einen Rechtsanwalt tatsächlich beschwerlicher und für die Augen ermüdender sei, als das Lesen von Akten auf Papier, da hieraus jedenfalls nicht die objektive Notwendigkeit hervorgehe, die vollständige Akte auszudrucken. Es sei dem RA zumindest zuzumuten, digitalisierte, Akten „am Bildschirm“ wenigstens daraufhin durchzusehen, ob und welche Teile er für seine weitere Tätigkeit, insbesondere während einer eventuellen Hauptverhandlung, zur sachgerechten Verteidigung des Mandanten auch in Papierform benötige. Vor diesem Hintergrund habe es dem RA oblegen darzulegen, welche Teile der Akte notwendigerweise hätten kopiert werden müssen. Die Kammer sei aber der Auffassung, dass zumindest ein Teil der Akte von dem RA hätte ausgedruckt werden dürfen. Dieser Teil sei aber – da es an einer konkreten Darlegung fehle – mit 20 % der angesetzten Kopien zu bemessen. Unter Berücksichtigung der doppelt angesetzten 232 Kopien würden bei insgesamt somit zugrunde legenden 2.031 Kopien – 406 Kopien verbleiben. Des Weiteren sei zu berücksichtigen, dass die heutigen Drucker über die Möglichkeit eines doppelseitigen Druckes verfügen und der Pflichtverteidiger gegenüber der Staatskasse zur kostensparenden Prozessführung verpflichtet sei, sodass die Kopierkosten insoweit um die Hälfte reduziert werden könnten. Insgesamt seien nur 10 % der Kopien – mithin 203 Kopien – erstattungsfähig. Es ergebe sich ein erstattungsfähiger Mindestbetrag von 48 EUR für 203 Kopien.

Praxishinweis

Die Begründung der Entscheidung des LG Aachen ist für Verteidiger nur bedingt nachvollziehbar. Grundsätzlich ist es durchaus sinnvoll, vor dem Ausdruck der gesamten Ermittlungsakte mögliche Teile auszusortieren, die für den Mandanten tatsächlich irrelevant sind. Das wird bei mehreren Beschuldigten in einem Verfahren häufiger möglich sein, als bei einem. Allerdings ist die Vorstellung der Kammer, dass Verfügungen und Empfangsbekenntnisse „irrelevante Dokumente“ und deshalb nicht zu kopieren seien, in zweierlei Hinsicht so nicht haltbar. Gerade die Verfügungen der StA können für die Verteidigung von großer Bedeutung sein, wenn bspw. die weiteren Ermittlungsschritte oder Zwischenergebnisse in diesen Verfügungen festgehalten sind. Auch Empfangsbekenntnisse können bei der Berechnung von Fristen und im Hinblick auf die Vorbereitung einer Hauptverhandlung – erscheint ein geladener Zeuge oder nicht – durchaus relevant sein. Wenn die Gerichte nun damit beginnen, einzelne Teile aus den Akten für die Verteidigung als „irrelevant“ einzustufen, stellt sich die Frage, ob die Verteidigungsrelevanz tatsächlich von einem Gericht im Sinne der Verteidigung entschieden wird. Weiter ist offen, wie der Verteidiger „am Bildschirm“ diese vermeintlich irrelevanten Dokumente aussortieren soll, um diese Unterlagen nicht ausdrucken zu lassen, ohne dadurch einen unverhältnismäßig hohen Aufwand zu erzeugen. Auch können Kopierkosten nicht ohne weiteres auf die Hälfte reduziert werden, wenn sie vor- und rückseitig bedruckt werden, da der Druck für die zweite Seite ebenfalls Kosten verursacht. Jedenfalls sind Verteidiger im Landgerichtsbezirk Aachen gut beraten, ihre Kopierkosten immer zu begründen.

Redaktion beck-aktuell, 5. Dezember 2016.