OLG München: Kein Wegfall des Vorfahrtsrechts durch irreführendes Fahrverhalten des Vorfahrtsberechtigten

StVO §§ 1 II, 8 I und II; StVG § 17 I und II

Vorfahrtsrecht und Wartepflicht aus § 8 Abs. 1 und 2 StVO entfallen nach einem Urteil des Oberlandesgerichts München grundsätzlich auch dann nicht, wenn der Vorfahrtsberechtigte durch missverständliches oder irreführendes Fahrverhalten (hier: Blinken nach rechts und niedrige Geschwindigkeit) einen Vertrauenstatbestand dahingehend schafft, die Fahrwege beider Fahrzeuge werden sich nicht kreuzen. Kommt es in dieser Situation zu einer Kollision zweier Fahrzeuge, kommt eine Haftungsverteilung von 75:25 zu Lasten des Wartepflichtigen in Betracht.

OLG München, Urteil vom 15.09.2017 - 10 U 4380/16 (LG Landshut), BeckRS 2017, 126827

Anmerkung von
Rechtsanwalt Ottheinz Kääb, LL.M., Fachanwalt für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht,
Rechtsanwälte Kääb Bürner Kiener & Kollegen, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 21/2017 vom 26.10.2017

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Sachverhalt

Der Kläger fuhr innerorts auf einer vorfahrtsberechtigten Straße. Er näherte sich einer Kreuzung, aus der von rechts das Fahrzeug des Beklagten einbiegen wollte. Anstelle der erlaubten 50 km/h fuhr der Kläger nur mit 30 km/h. Zusätzlich hatte er den rechten Blinker betätigt. Der Beklagte nahm deswegen an, dass der Kläger nach rechts in die vom Beklagten benutzte Straße einbiegen wolle und fuhr an. Der Kläger aber fuhr geradeaus und es kam zur Kollision.

Der Kläger begehrt 100% Schadenersatz aus dem Unfall. Vor dem Landgericht erhielt er nur 50% und legte Berufung ein. Mit dieser hat er «zur Hälfte» Erfolg, denn das OLG geht nach wiederholter und ergänzender Beweisaufnahme von einer Haftungsverteilung 75:25 zu Gunsten des Klägers aus.

Rechtliche Wertung

Der Erstrichter war davon ausgegangen, dass der Beklagte damit habe rechnen dürfen, dass der Kläger nicht geradeaus fahren werde und dass er mit dem Einfahren in die bevorrechtigte Straße habe beginnen dürfen.

Der Senat ist den tatsächlichen Verhältnissen, die zum Unfall geführt haben, nochmals nachgegangen und hat auch ein verkehrsanalytisches Sachverständigengutachten erholt. Für die Frage der Kausalität des klägerischen Fahrverhaltens für den Unfall komme es, so führt das OLG aus, entscheidend darauf an, ob das Fahrzeug des Beklagten in dem Moment, als die Entscheidung gefasst wurde, in die Kreuzung einzufahren, immer noch davon ausgehen konnte, dass der Kläger nach rechts abbiegen wird. Diese Frage habe der Sachverständige verneint. Im Moment des Anfahrens des Beklagten wäre es dem Kläger mit 30 km/h nicht mehr möglich gewesen nach rechts abzubiegen, ohne Gefahr zu laufen, «aus der Kurve getragen zu werden» und entweder mit dem – dann noch stehenden – Fahrzeug des Beklagten oder einem dahinter stehenden weiteren Fahrzeug zu kollidieren. Der Beklagte habe daher objektiv nicht mehr damit rechnen dürfen, dass der Kläger nicht geradeaus fahren werde. Vor diesem Hintergrund erschien dem Senat die Haftungsverteilung von 75:25 zu Gunsten des Klägers angemessen.

Praxishinweis

Der «falsche» Blinker beschäftigt Verkehrsrechtler recht häufig. Wird aber das Unfallgeschehen im Einzelnen untersucht, dann wird häufig deutlich, dass der Wartepflichtige sich nur in wenigen Fällen auf ein «Verkehrsvertrauen» verlassen darf. Er muss stets der Misstrauischere sein.

Die Betriebsgefahr hat der Senat nicht entfallen lassen. Zwar treffe den Kläger kein Verschulden, die Betriebsgefahr habe er aber zu vertreten. Anstelle der «üblichen» 20% seien hier wegen des «falschen Blinkers» 25% anzusetzen.

Redaktion beck-aktuell, 27. Oktober 2017.