BSG: Abschlagsfreie Altersrente ab 63

SGB VI §§ 34, 51, 236b; GG Art. 3

Die abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte gem. § 236b SGB VI kann nur beanspruchen, wer die Wartezeit von 45 Jahren erfüllt hat. Dabei werden Anrechnungszeiten wegen Leistungen der Arbeitsförderung, die in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn gewährt wurden, nicht berücksichtigt. Die Ausnahme davon (Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe) erfüllt nicht, wer nach einem befristeten Transferarbeitsverhältnis Leistungen der Bundesagentur für Arbeit bezieht. (Leitsatz des Verfassers)

BSG, Urteil vom 12.03.2019 - B 13 R 19/17 R, BeckRS 2019, 10887

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 15/2019 vom 02.08.2019

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Sachverhalt

Der Kläger, geboren 1952, war bei der H Druckmaschinen AG beschäftigt. Am 14.05.2012 schloss er mit dieser einen Aufhebungsvertrag und im Zusammenhang hiermit einen „Vertrag über ein Beschäftigungsverhältnis" mit einer Transfergesellschaft. Aufgrund dieser Verträge endete das Arbeitsverhältnis zum 31.05.2012. Der Kläger wechselte nahtlos zu der im Rahmen des Sozialplans gebildeten Transfergesellschaft. Dieses Beschäftigungsverhältnis endete entsprechend der vertraglich vereinbarten Befristung mit dem 31.05.2013. Anschließend bezog der Kläger Arbeitslosengeld (Alg I) bis zum 30.05.2015. Danach war er arbeitslos ohne Leistungsbezug. Seit dem 01.10.2015 erhält er eine Altersrente für langjährig Versicherte mit Abschlägen (vgl. dazu § 36 SGB VI). Seinen zuvor gestellten Antrag auf abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte gem. § 236b SGB VI lehnte die beklagte DRV ab, weil die erforderliche Wartezeit von 45 Jahren nicht erfüllt sei. Statt der erforderlichen Anzahl von 540 Beitragsmonaten enthalte das Versicherungskonto lediglich 529 Beitragsmonate. Zeiten des Bezugs von Alg I in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn seien nicht zu berücksichtigen, weil diese Arbeitslosigkeit nicht Folge einer Insolvenz oder vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers sei. Widerspruch, Klage und Berufung dagegen waren erfolglos. Der Kläger macht in der Revision eine Verletzung von § 51 Abs. 3a SGB VI insbesondere in Verbindung mit dem Gleichheitssatz gem. Art. 3 GG geltend. Das Tatbestandsmerkmal der „vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers" umfasse auch eine Betriebsänderung, wie sie Anlass für den Interessenausgleich und Sozialplan gewesen sei. Auf diesem Sozialplan beruhe der von dem Kläger geschlossene Aufhebungsvertrag und die Überleitung in die Transfergesellschaft sowie der spätere Bezug von Entgeltersatzleistungen. Im Übrigen sei eine vollständige Geschäftsaufgabe der Transfergesellschaft anzunehmen, wobei auf die betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit und nicht auf die sie tragende, tatsächlich weiter existierende GmbH abzustellen sei.

Entscheidung

Das BSG weist die Revision als unbegründet zurück.

Der Kläger erfüllt nicht die Wartezeit-Voraussetzungen für die Gewährung einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte zum beantragten Zeitpunkt, d.h. dem 01.10.2015. Die Wartezeit von 45 Jahren kann der Kläger nur erfüllen, wenn dazu auch die Anrechnungszeiten gehören, die sich aus der Gewährung des Alg I nach Ausscheiden aus der Transfergesellschaft ergeben. Dies schließt § 51 Abs. 3a Nr. 3 SGB VI aus. Danach werden solche Anrechnungszeiten, die „in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn liegen, nicht berücksichtigt". Die im Gesetz bestimmte „Rückausnahme", nämlich der Bezug von Entgeltersatzleistungen, die „durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers bedingt" sind, ist nicht erfüllt. Insolvenzbedingt ist der ALG-Bezug nur dann, wenn sich die Beendigung einer Beschäftigung als Ergebnis einer verfahrensrechtlich durch die Insolvenzordnung beendeten Tätigkeit darstellt. Dies ist der Fall, wenn die Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses auf der Erklärung, z.B. Kündigung, einer Person beruht, deren Handlungsbefugnis durch die Insolvenzordnung begründet ist. Als solche Person kommt der (vorläufige) Insolvenzverwalter oder der Arbeitgeber in der Funktion als Schuldner in Eigenverwaltung in Betracht. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Rücksicht auf eine lediglich drohende Insolvenz ist dem nicht gleichzusetzen.

Der Bezug von Alg I beruht hier auch nicht auf einer Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers. Soweit man die Transfergesellschaft oder deren Träger als „Arbeitgeber" im Sinne dieser Vorschrift ansieht, fehlt es an der Geschäftsaufgabe. Auch der frühere Arbeitgeber, die H. Druckmaschinen AG hat ihre Geschäfte nicht im Sinne dieser Vorschrift aufgegeben.

§ 51 Abs. 3a SGB VI ist nicht analog anzuwenden auf Fälle des Leistungsbezugs nach einem Wechsel in eine Transfergesellschaft. Die Analogie setzt eine Lücke voraus, von der hier nicht gesprochen werden kann. Dazu verweist der Senat auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes und den vom Gesetzgeber vielfältig verfolgten Zweck, der „Frühverrentung" durch Interessenausgleich und Sozialplan entgegenzuwirken. Das gilt auch für Varianten mit Übertritt in eine betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit und den Bezug von Kurzarbeitergeld. Eine teleologische Reduktion der Rückausnahme insoweit, als man nur solche Entgeltersatzleistungen von der Anrechnung auf die Wartezeit ausnimmt, die nach dem Inkrafttreten der Neuregelung, d.h. dem 01.07.2014 liegen, komme nicht in Betracht. Dafür fehlt es an der erforderlichen planwidrigen Regelungslücke. Ausführlich befasst sich der Senat sodann mit der Frage, ob die so interpretierte Regel des § 51 Abs. 3a SGB VI gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt. Dazu verweist das Gericht auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, der insbesondere bei Massenerscheinungen befugt ist, zu generalisieren, zu typisieren und zu pauschalisieren, ohne allein wegen damit verbundener Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen. Die vom Senat vorgenommene Interpretation verstößt auch nicht gegen das Verbot der Altersdiskriminierung, die Differenzierung knüpft nämlich nicht an ein bestimmtes Lebensalter an.

Praxishinweise

1. Dass der Kläger ab dem 01.10.2015 eine Altersrente allerdings mit Zuschlag tatsächlich bezieht, hat nicht zur Folge, dass die günstigere Altersrente ab 63 (gem. § 236b SGB VI) gem. § 34 Abs. 4 SGB VI ausgeschlossen ist. Dieser Ausschluss betrifft nur den Wechsel von einer Rente zur anderen, nicht aber Fälle wie den vorliegenden, in dem zum Zeitpunkt der Antragstellung zwei Rentenarten in Betracht kommen und hinsichtlich beider Renten ein entsprechender Antrag gestellt worden ist.

2. Nicht nur der 13. Senat, auch der 5. Senat und die Instanzgerichte haben sich mit der Rüge, § 51 SGB VI verstoße gegen Art. 3 GG ausführlich auseinandergesetzt und einen Verfassungsverstoß verneint, u.a. mit dem Hinweis darauf, dass die Ungleichbehandlung „nicht sehr intensiv" sei. Der Abschlag beträgt hier lebenslang 9 %. Vereinzelt wurde auch geltend gemacht, ein Verstoß gegen Artikel 3 GG komme schon deshalb nicht in Betracht, weil es sich bei der Rente ab 63 gem. § 236b SGB VI um eine außerordentliche Begünstigung handele, deren Legitimation nicht nur sozialpolitisch zweifelhaft sei.

Redaktion beck-aktuell, 8. August 2019.