LSG Berlin-Brandenburg: Pförtner an der Nebenpforte ist kein Verweisungsberuf (mehr)

SGB VI § 43

Die Tätigkeit eines Pförtners an der Nebenpforte wird im Rahmen einer veränderten Arbeitswelt isoliert nicht mehr angeboten. Solche Tätigkeiten sind regelmäßig mit Kontrollgängen, Erste-Hilfe-Leistungen und 12-Stunden-Schichten verbunden, ggfs. mit weiteren Aufgaben im Sicherheitsdienst. Auf die Tätigkeit als Pförtner an der Nebenpforte kann somit ein behinderter Rentenbewerber, bei dem eine Summierung von Leistungseinschränkungen vorliegt, nicht verwiesen werden. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.07.2018 - L 8 R 883/14, BeckRS 2018, 18007

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 04/2019 vom 01.03.2019

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Sachverhalt

Der Kläger, geb. 1964, begehrt die Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Er hat keinen Beruf erlernt und war von 1980 bis 1982 in einer Papierfabrik, danach als Maschinenführer tätig und von 1996 bis 2003 als Wachmann. 2004 bis 2007 war er mit einer Autovermietung selbständig tätig, danach arbeitsunfähig bzw. arbeitslos. Die beklagte DRV bewilligte dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung für den Zeitraum von 2007 bis 2012. Den Antrag auf Weitergewährung der Rente lehnte die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid ab. Der Kläger sei wieder in der Lage, mindestens 6 Stunden täglich zu arbeiten. Daran ändere auch nichts das chronische mittelschwere depressive Syndrom.

Gegen den ablehnenden Widerspruchsbescheid erhob der Kläger Klage zum SG, welches Befundberichte einholte und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten. Im Laufe des Klageverfahrens musste der Kläger sich einer stationären Behandlung wegen einer koronaren Herzkrankheit unterziehen. Das SG wies die Klage mit Gerichtsbescheid ab. Die eingeholten Gutachten sowie die beratungsärztlichen Stellungnahmen der Beklagten bestätigen nicht wesentliche Leistungseinschränkungen. Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er rügt, das eingeholte Gutachten sei widersprüchlich. Er leide unter einer depressiven Anpassungsstörung, die nun auch chronifiziert sei und unter anhaltenden Herzbeschwerden. Das LSG hat weitere Befundberichte angefordert und ein Gutachten von einem Facharzt für psychosomatische Medizin, welches zum Ergebnis kommt, dass der Kläger noch leichte Arbeiten bis 6 Stunden verrichten könne wobei weitere Einschränkungen hinzukämen, auch was die Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit anlangt. Ein orthopädisches Gutachten bestätigt nur qualitative Einschränkungen, nicht aber quantitative. Das LSG hat schließlich ein berufskundliches Gutachten eingeholt und Auskünfte vom Bundesverband der Sicherheitswirtschaft (BDSW). Diese berichten darüber, dass es bundesweit 850 bis 900 Arbeitsplätze für den Pförtner an der Nebenpforte gebe, dass hier aber zum Teil erhöhte Anforderungen an die Konzentration und die Aufmerksamkeit erforderlich seien und dass flexible Einsätze unerlässlich sind.

Entscheidung: Tätigkeit des Pförtners an der Nebenpforte ist mit zu vielen ergänzenden Pflichten verbunden

Der Senat gibt der Berufung des Klägers statt und verurteilt die Beklagte, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung seit 01.10.2014, befristet bis zum 31.12.2019, zu gewähren. Seit März 2014 sei das dem Kläger verbliebene Restleistungsvermögen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr verwertbar. Die verschiedenen Behinderungen würden die Leistungsfähigkeit des Klägers stark einschränken, nicht nur was die Beschränkung auf leichte Tätigkeiten und den Wechsel zwischen Gehen und Sitzen anlangt, sondern darüber hinaus ohne Einfluss von Hitze, Kälte, Nässe. Da zudem die kognitiven Fähigkeiten behinderungsbedingt eingeschränkt seien, ist hier von einer „Summierung“ von Leistungseinschränkungen i.S.d. Rechtsprechung des BSG zu sprechen. Der Rentenanspruch hängt also davon ab, ob es trotz der ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen eine Berufstätigkeit gibt, auf die der Kläger zumutbar verwiesen werden kann.

Als einzige Möglichkeit verbleibt die Tätigkeit als Pförtner an der Nebenpforte. Das berufskundliche Gutachten und die eingeholten Auskünfte zeigen aber, dass die Tätigkeit des Pförtners an der Nebenpforte mit so vielen ergänzenden Pflichten verbunden ist, dass sie für Personen, die wie der Kläger derart leistungseingeschränkt sind, und zwar nicht nur auf orthopädischem Gebiet, sondern auch auf kardiologischem Fachgebiet und schließlich auch im Bereich der Psychosomatik, ausgeschlossen bzw. unzumutbar ist. Zwar habe einer der Sachverständigen angegeben, dass bei einer multimodalen psychosomatischen Therapie vorstellbar sei, dass einige qualitative Leistungseinschränkungen behoben werden. Das reicht jedoch nicht aus, aktuell ein entsprechendes Leistungsvermögen zu unterstellen.

Praxishinweis

1.  Der in Streitigkeiten um EM-Rente fast regelhaft vorgetragene Verweis auf die Tätigkeit als Pförtner steht nun zur Diskussion: Die reale Arbeitswelt (nach LSG Sachsen-Anhalt, FD-SozVR 2018, 412494 - jedenfalls seit 2016) hat sich derart geändert, dass man mit dieser Bezeichnung eine leichte berufliche Tätigkeit nicht (mehr) bezeichnen kann.

12-Stunden-Schicht und zusätzliche Aufgaben im Wachdienst, häufig auch nachts, kommen für entsprechend leistungseingeschränkte Personen – einerlei ob zuvor eine „Summierung“ festgestellt wurde oder nicht – nicht in Betracht. Es ist bekannt, dass diese Botschaft nicht bei allen Landessozialgerichten angekommen ist, z.B. dem LSG Bayern (BeckRS 2018, 17404), welches ziemlich kritiklos auf Jahre zurückliegende berufskundliche Stellungnahmen abstellt und meint, die Tätigkeit als Pförtner sei leicht, werde in beheizter Umgebung ausgeübt und stünde auch in ausreichendem Maße bundesweit zur Verfügung. Das LSG Saarland hat mit Urteil vom 02.07.2015 einen behinderten Menschen trotz funktionaler Einarmigkeit auch auf den Beruf als Pförtner verwiesen (BeckRS 2015, 72665). Das LSG Hessen hat mit Urteil vom 30.05.2017 (BeckRS 2017, 151991) einem Rolladenbauer den Rentenanspruch verweigert, mit dem Argument, er sei vollschichtig leistungsfähig und könne noch Tätigkeiten als Warenaufmacher oder Versandfertigmacher verrichten. Auch das LSG Sachsen verweist wohl in st. Rspr. auf die Tätigkeit als Pförtner (z.B. BeckRS 2017, 141123).

2.  Dass ein Verweis auf die Tätigkeit als Pförtner auch und gerade unter den Anforderungen, die heute an die Verrichtung von Arbeiten gestellt werden, kaum noch zeitgerecht ist, wird in der Literatur immer deutlicher hervorgehoben (z.B. Peters-Lange, Sozialrecht aktuell Sonderheft 2018, 66, 69).

Erst recht muss solcher Art pauschale Verweisung auf Berufe, die es kaum gibt, dann Zweifel wecken, wenn zuvor schon eine Rente wegen Erwerbsminderung auf Zeit gewährt wurde. Dass die Wiedereingliederung nach solcher Art Zeitrenten kaum gelingt und es „Reha nach Rente“ nicht gibt, ist hinlänglich bekannt (dazu u.a. Deinert Sozialrecht aktuell Sonderheft 2018, 30 und Welti ebenda, 34).

3.  Das LSG hat die Revision zugelassen (anhängig unter B 13 R 7/18 R). Das BSG hat nun die Chance, den Instanzgerichten Leitlinien für eine stärker am Sinn und Zweck des § 43 SGB VI orientierte Handhabung der Summierungsrechtsprechung an die Hand zu geben.

4.  Ein eher schlechtes Signal sendet BSG mit seinem Beschluss vom 09.01.2019 (BeckRS 2019, 570): Das LSG hatte ohne jeden Hinweis an die Parteien den Rentenanspruch abgelehnt, der nach dem vom LSG eingeholten Gutachten wegen der vom Sachverständigen festgestellten zwei arbeitsunüblichen Pausen je Arbeitstag eigentlich begründet war. Das Abweichen des LSG vom Gutachten sei für den Kläger nicht „überraschend“ gewesen. Wozu holt das LSG dann ein Gutachten ein?

Redaktion beck-aktuell, 7. März 2019.