LSG Sachsen-Anhalt: Schock-Unfall als Arbeitsunfall

SGB VII §§ 2, 8

1. Zu den i.S.d. § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII „von außen auf den Körper einwirkende(n) Ereignisse(n)“ gehören auch alltägliche Ereignisse und Gesundheitserstschäden, die durch äußere psychische Belastungen verursacht werden. (Leitsatz des Verfassers)

2. Ein versichertes psychisches Trauma kann auch dann vorliegen, wenn betriebsbedingte äußere Umstände beim Versicherten die nachvollziehbare Vorstellung bewirken, in eine Gefahrenlage für sich oder andere verwickelt zu sein. (Leitsatz des Gerichts)

LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.04.2018 - L 6 U 150/14, BeckRS 2018, 25733

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 24/2018 vom 07.12.2018

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Sachverhalt

Der Kläger, geboren 1962 und als Fahrdienstleiter tätig, nahm am 25.11.2011 gegen 10:35 Uhr einen „Beinahe-PKW-Zug-Unfall“ wahr. Als Fahrdienstleiter hatte er aus dem Stellwerk einem Zug die Durchfahrt gestattet und die Schranke geschlossen. Dann sah er, wie ein Auto unter der Schrankenanlage festgeklemmt wurde. Tatsächlich ist der Zug dann vorsichtig am Auto vorbeigefahren, so dass nur am Auto und der Schranke eine leichte Beschädigung aufgetreten ist. Der Fahrer des PKW war schon vorher ausgestiegen. Der Kläger hatte nach der Schließung der Schranke jedoch nur wahrgenommen, dass sich ein PKW trotz herannahenden Zuges auf den Bahnübergang zubewegt hatte und in der Schranke steckengeblieben war. Dass der PKW-Fahrer das Auto vor der Zugdurchfahrt verlassen hatte, konnte er aus seiner Perspektive nicht erkennen. Durch das Ereignis sei – so der Kläger – eine psychische Gesundheitsstörung verursacht worden. Diese könne nicht als typische berufliche Belastung abgetan werden, sondern habe eine extreme Ausnahmesituation dargestellt, die ihn in einen Schockzustand versetzt und an zwei frühere Ereignisse aus den Jahren 2003 und 2009 (ein tödlicher Bahnunfall und ein Fast-Zusammenstoß zweier Züge) erinnert hat. Im März/April 2012 befand sich der Kläger in medizinischer Rehabilitation. Der Entlassungsbericht bestätigt dem Kläger eine mittelgradige depressive Episode. Der Kläger leide seit dem Ereignis im November 2011 unter Antriebs-, Konzentrations- und Gedächtnisproblemen, innerer Unruhe, Augenzucken, Vibrieren am Rücken sowie Zittern.

Den Antrag des Klägers auf Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall wies die beklagte Unfallkasse zurück, ebenso den Widerspruch. Dagegen erhob der Kläger Klage. Im SG-Verfahren wurden verschiedene Befundberichte von Psychiatern und Psychotherapeuten beigezogen. Das SG weist die Klage mit angefochtenem Gerichtsbescheid ab. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung von Unfallfolgen, da das Ereignis vom 25.11.2011 keine Gesundheitsstörung wesentlich verursacht habe. Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sei von keinem Facharzt diagnostiziert worden. Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers, der die Ereignisse vom 25.11.2011 nochmals ausführlich darstellt. Im entscheidenden Zeitpunkt existierten keine fahrdienstlichen Maßnahmen, die er hätte ergreifen können, um die von ihm als sicher vorhergesehene Kollision zu vermeiden. Zusammengekauert habe er auf den Knall des Zusammenpralls gewartet, zu dem es jedoch nicht gekommen ist. Letztlich habe er durch das Ereignis vom 25.11.2011 seinen Beruf verloren.

Entscheidung: Arbeitsunfall durch äußere psychische Belastung

Das LSG hat nach Einholung eines fachmedizinischen Gutachtens die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass es sich bei dem Ereignis vom 25.11.2011 mit einer mehrdimensionalen psychosomatischen Störung um einen Arbeitsunfall gehandelt hat. Zwar sei ein Arbeitsunfall nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ein zeitlich begrenztes von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis. Zu solchen Ereignissen gehören aber auch ganz übliche Vorgänge und auch Gesundheitserstschäden, die durch äußere psychische Belastungen verursacht werden, wie etwa das Auslachen durch Mitschüler wegen Versagens im Schulunterricht. Gemessen daran beinhaltete das Geschehen selbst einen betrieblichen Vorgang, der sich von den üblichen Routinegeschäften eines Fahrdienstleiters unterscheidet. Die äußere betriebsbedingte Einwirkung auf die Psyche des Klägers lag bereits darin, dass aus seiner Position keine fahrdienstlichen Maßnahmen mehr existierten, um die als sicher vorhergesehene Kollision zwischen dem herannahenden Zug und dem – letztlich unter der Schranke steckengebliebenen – PKW zu unterbinden. Dem lag mit der eingetretenen Beschädigung der Schrankenanlage und des PKWs auch ein tatsächlich nachweisbarer, äußerer betriebsbezogener Unfallvorgang und keine Vorstellung allein in der Phantasie des Klägers infolge „Überempfindlichkeit“ zugrunde. Das Ereignis vom 25.11.2011 ist nicht als Gelegenheitsursache anzusehen. Beim Kläger ist auf psychischem Gebiet schon keine derart überragende Schadensanlage vollbeweislich gesichert, die den Schluss zuließe, die psychosomatische Störung hätte durch jedes Alltagsereignis ausgelöst werden können.

Praxishinweis

1. Der Senat hat die Revision zugelassen (anhängig unter B 2 U 8/18 R) mit der Begründung, seitens des BSG seien die Voraussetzungen der Feststellungen eines Ereignisses als Arbeitsunfall bei (allein) psychischen Einwirkungen noch nicht abschließend geklärt. Das LSG grenzt diesen Fall ab von den Entscheidungen des BSG vom 29.11.2011 (NJOZ 2013, 131 und FD-SozVR 2012, 330277 m. Anm. Plagemann). Hier ging es um einen „Beinahe-Unfall“, allerdings nur in der Vorstellung des Betroffenen.

2. Das LSG Hessen hat in einem besonders gelagerten Fall durch Urteil vom 17.10.2017 (FD-SozVR 2018, 404432 m. Anm. Bultmann) eine akute psychische Belastungsreaktion anerkannt, entstanden durch falsche schwerwiegende Verdächtigungen in Verbindung mit einer polizeilichen Leibesvisitation. Mobbing wurde vom LSG Hessen (ArbRAktuell 2013, 116 m. Anm. Stück) weder als „Wie-Berufskrankheit“ noch als Arbeitsunfall anerkannt, dazu ausführlich Holtstraeter, ASUMed 2013, 595.

3. Burnout kommt als BK ebenfalls nicht in Betracht (LSG Bayern, FD-SozVR 2018, 407, 152). Stressbedingte Krankheiten erfüllen jedenfalls derzeit nicht die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Liste der BKen.

Redaktion beck-aktuell, 13. Dezember 2018.