LSG Baden-Württemberg: Keine Opferentschädigung bei missbilligungswerter Selbstgefährdung

OEG §§ 1, 2; SGB VII § 1 Nr. 13a

1. Eine leichtfertige und sozial missbilligungswerte Selbstgefährdung liegt auch dann vor, wenn das Opfer im Rahmen eines langfristigen innerfamiliären Streits (hier um das Sorgerecht über ein Kind) und nach der Beendigung einer bereits gewalttätig gewordenen Auseinandersetzung die Kontrahenten erneut aufsucht, um „dem Streit ein Ende zu machen“, dabei potentielle Schlagwerkzeuge mit sich führt und sich damit in die erneute Auseinandersetzung begibt, nachdem diese von verbalen Anwürfen zu Gewalttätigkeiten übergegangen ist.

2. Welche Verhaltensweisen sozial missbilligungswert sind, bestimmt die Rechtsordnung. Hierzu gehört das staatliche Gewaltmonopol. Es verlangt, laufende auch innerfamiliäre Konflikte mit Hilfe der staatlichen Instanz (hier: Jugendamt, Familiengericht, Polizei) zu beenden und nicht durch verbale oder körperliche Auseinandersetzungen. Dies gilt auch dann, wenn innerhalb der Familie oder Gruppe des Gewaltopfers möglicherweise abweichende kulturelle oder soziale Vorstellungen oder Verhaltensmuster bestehen. (Leitsätze des Gerichts)

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.09.2018 - L 6 VG 2878/17, BeckRS 2018, 24324

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 21/2018 vom 26.10.2018

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Sachverhalt

Die Klägerin begehrt von dem beklagten Land Witwenrente und Bestattungsgeld nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen des Todes ihres Ehemannes infolge einer körperlichen Auseinandersetzung am 08.01.2012. Die Klägerin war seit 1985 mit dem Geschädigten und später Verstorbenen verheiratet. Aus der Ehe sind fünf Kinder hervorgegangen, darunter der 1991 geborene J. W. Dieser war mit der 1983 geborenen G. K. nach der Tradition der Bevölkerungsgruppe der Sinti „verheiratet“ und hatte mit ihr ein zur Tatzeit fünf Monate alten Sohn. G.K. – Schwiegertochter der Klägerin – hatte bereits zwei Kinder aus einer früheren Ehe. Die damals zehnjährige Tochter aus dieser Beziehung lebte bei der Mutter und dem Sohn der Klägerin. Der Kindsvater machte Umgangs- und Besuchsrechte geltend, die ihm verweigert wurden. Dazu kam es zwischen den Familien, die früher miteinander befreundet waren, zu Auseinandersetzungen u.a. am Sonntag, dem 08.01.2012. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung kam es zu heftigen verbalen Beschimpfungen. Nachdem die Streitparteien auseinandergegangen waren, suchten fünf Mitglieder der Familie der Klägerin das Haus der gegnerischen Familie auf. Sie wollten den aus ihrer Sicht zur Eskalation gebrachten Streit weiter austragen – nach den Einlassungen auch der Klägerin wollte man „über die Sache reden und allem ein Ende machen“. Den Beteiligten der klägerischen Familie war klar, dass es zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommen konnte. Ihnen allen war insbesondere bekannt, dass der Vater der zehnjährigen Tochter als aggressiv bekannt und auch schon wegen Körperverletzung bestraft worden war. Beim Zusammentreffen der Familien kam es zu einem zunächst verbal ausgeführten Streit und sodann zu körperlichen Auseinandersetzungen, bei denen der Ehemann der Klägerin mit einem Baseballschläger am Kopf getroffen wurde. Er taumelte rückwärts, sank schließlich zu Boden und wurde danach nochmals von einem Mitglied der gegnerischen Familie mit einer Holzlatte am Kopf geschlagen. Der Ehemann der Klägerin wurde ins Krankenhaus eingeliefert und dort wegen eines Schädel-Hirn-Traumas behandelt. Es kam zu Kontusionsblutungen, einem Hämatom an der rechten Schläfe und einer Hirnstamm-Einblutung. Daran starb er am 20.05.2012. Der Täter und sein Sohn wurden rechtskräftigt zu Freiheitsstrafen verurteilt.

Die Klägerin macht Ansprüche nach dem OEG geltend, die das beklagte Versorgungsamt ablehnt mit der Begründung, Leistungen nach dem OEG seien wegen Unbilligkeit gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG ausgeschlossen. Der Geschädigte habe die Tat, die zu seinem Tod geführt habe, leichtfertig maßgeblich gefördert. Er habe sich bewusst in die Gefahr des Todes begeben, indem er zu der Wohnung der Familie B. gefahren sei, um die begonnene Auseinandersetzung fortzusetzen. Widerspruch und Klage waren erfolglos. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die vorträgt, es könne nicht mehr festgestellt werden, ob der Geschädigte bei der Fahrt zu der Wohnung der Kontrahenten damit gerechnet habe, bei einer körperlichen Auseinandersetzung verletzt oder gar getötet zu werden. Insoweit dürfe nicht auf die Feststellung des Strafurteils zurückgegriffen werden. Diese Unaufklärbarkeit könne nicht zu ihren Lasten gehen. Alle Mitglieder der Familie der Klägerin seien bei der Fahrt zur anderen Familie davon ausgegangen, dass sich die Angelegenheit verbal werde klären lassen. Zwischen den Familien habe eine langjährige Freundschaft bestanden, weswegen ebenfalls nicht mit Gewalt habe gerechnet werden müssen.

Entscheidung: Mitverursachung durch leichtfertige Selbstgefährdung

Das LSG weist die Berufung zurück. Die Voraussetzungen des § 1 OEG liegen vor, nämlich der tätliche Angriff, eine rechtswidrige Schädigung und auch Schädigungsfolgen. Der Geschädigte ist in diesem Sinne Opfer eines vorsätzlichen und auch rechtswidrigen gewaltsamen Angriffs i.S.v. § 1 Abs. 1 OEG geworden. Dass der Täter aus Notwehr gehandelt habe oder seine Tat aus anderen Gründen gerechtfertigt gewesen sei, kann nach den Feststellungen im Strafurteil nicht angenommen werden.

Die Ansprüche der Klägerin sind jedoch nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG ausgeschlossen. Im Sinne dieser Vorschrift hat der Geschädigte die Schädigung mit verursacht. Die Fahrt zur Wohnung der Kontrahenten, sein Aussteigen aus dem Wagen und der Beginn der Auseinandersetzung mit der anderen Familie stelle eine Mitverursachung i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1, 1. Variante, OEG dar, da dieses Verhalten einen annähernd gleichwertigen Beitrag gesetzt hat, weil es eine leichtfertige bzw. bewusste Selbstgefährdung war, sozial nicht gebilligt werden konnte und es noch in einem ausreichend engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zur Tat stand. Ohne die gewaltsame Auseinandersetzung vor dem Haus der anderen Familie wäre es nicht zu der Tat gekommen. Der Angriff durch die beiden Männer aus der anderen Familie geschahen nicht plötzlich und unerwartet, sondern gleichermaßen, weil sie der Geschädigte und seine Familie durch ihre Fahrt dorthin – gerade auch im Hinblick auf die vorangegangene Auseinandersetzung – gefördert und genau genommen auch provoziert hatten. Vor allem aber war es eine gleichwertige Ursache, dass der Geschädigte mit seinem Gehstock ausstieg und auf das Haus der Familie zuging. Dadurch wurde deutlich, dass die bislang verbal und nur zwischen den Frauen laufende Auseinandersetzung nunmehr von den Männern mit Gewalt fortgesetzt werden sollte. Hierdurch begab sich der Geschädigte unmittelbar in Gefahr, auch in Lebensgefahr. Es lag subjektiv zumindest Leichtfertigkeit vor.

Praxishinweis

1. Das LSG nimmt Bezug auf die Grundsatzentscheidung des BSG vom 18.06.1996 (NStZ-RR 1997, 156). Dort wird ausgeführt, dass die materielle Beweislast für die tatsächlichen. Voraussetzung einer Versagung die beklagte Versorgungsverwaltung trägt, da es sich bei § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG um eine anspruchshindernde Einwendung handelt. Allerdings können in diesem Rahmen die üblichen Grundsätze des Indizienbeweises und sogar des Anscheinsbeweises herangezogen werden. Das LSG betont, dass bei der Feststellung der Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 OEG der Senat auf die aktenkundigen Unterlagen, insbesondere das Urteil des LG Stuttgart abstellen kann. Die Feststellungen anderer Gerichte können als Urkunden gem. § 118 SGG verwertet werden. Eine erneute Einvernahme von Zeugen ist dann notwendig, wenn ihre Glaubwürdigkeit anders beurteilt werden soll. Die Frage bleibt, ob die Klägerin durch entsprechende Beweisanträge das LSG hätte verpflichten können, gem. §§ 103, 106 SGG weiteren Beweis zu erheben.

2. Das LSG hatte nicht zu entscheiden darüber, ob der Klägerin ein Anspruch auf Entschädigung wegen eines Schockschadens zusteht. Wegen eines „Schockschadens mit psychovegetativen Reaktionen“ und eines daraus folgenden GdS von 40 hat die Versorgungsverwaltung dem Sohn der Klägerin Beschädigten-Grundrente sowie Heilbehandlung zuerkannt. Die Chancen der Klägerin auf eine solche Entschädigung dürften aber angesichts ihrer Beteiligung an der Auseinandersetzung gering sein.

3. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII wäre zu prüfen, ob der Geschädigte im Unfallzeitpunkt eine Person war, die im Sinne dieser Vorschrift Hilfe leisten wollte bzw. eine andere Person aus erheblicher Gefahr retten wollte. Nach den Feststellungen des LG griff der Verletzte in die Auseinandersetzung ein, um „seiner Seite zum Sieg zu verhelfen“. Das spricht gegen einen Anspruch auf Entschädigung gegenüber der Unfallkasse gem. § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII.

4. Zum OEG vgl. Petri-Kramer, MAH SozR, 5. Aufl. 2018, § 34 Rn. 47 ff., ferner LSG Baden-Württemberg vom 29.04.2014 (FD-SozVR 2014, 360883) betreffend eine Mitverursachung durch vorwerfbare Selbstgefährdung i.S.v. § 2 Abs. 1 OEG. Aktuell wird diskutiert, ob der Ausschuss von Ansprüchen nach § 1 Abs. 11 OEG betreffend Gewaltdelikte im Straßenverkehr, noch gerechtfertigt ist, dazu Schlaustein NZV 2018, 407 f.

Redaktion beck-aktuell, 30. Oktober 2018.