BSG: Anforderungen an die Revisionsbegründung

SGG § 164; GG Art. 19 IV

Die Begründung einer Revision, die sich ausschließlich mit Sachrügen befasst, genügt den Anforderungen des § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG, wenn neben der Stellung eines bestimmten Antrags und der Bezeichnung der verletzten Rechtsnorm die Gründe aufgezeigt werden, die nach Auffassung des Revisionsklägers aufgrund einer rechtlichen Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung das Urteil als unrichtig erscheinen lassen. Der Bezeichnung von Tatsachen bedarf es, soweit dies zum Verständnis der gerügten Rechtsverletzung unerlässlich ist. (Leitsatz des Verfassers)

BSG, Beschluss vom 13.06.2018 - GS 1/17, BeckRS 2018, 20527

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 19/2018 vom 28.09.2018

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Sachverhalt

Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens streiten über die Versorgung des Klägers mit einer Immuntherapie mit autologen dendritischen Zellen. Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger leidet an einem Kolonkarzinom. Er beantragte bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine Behandlung mit dendritischen Zellen. Die beklagte Krankenkasse beauftragte den MDK und lehnte daraufhin die Bewilligung der Immuntherapie ab. Widerspruch, Klage und Berufung waren erfolglos. Bei der Immuntherapie handele es sich um eine neue, bisher nicht vom Gemeinsamen Bundesausschuss empfohlene Behandlungsmethode. Dagegen richtet sich die Revision des Klägers, der u.a. eine Verletzung des § 13 Abs. 3 lit. a Satz 6 SGB V rügt.

Im Revisionsverfahren macht die beklagte Krankenkasse geltend, die Revision sei unzulässig, da die Revisionsbegründung mangels hinreichender Angaben zum festgestellten Sachverhalt nicht den Anforderungen des § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG genüge. Der mit dieser Revision befasste erste Senat des Bundessozialgerichtes hat mit Beschluss vom 26.09.2017 gemäß § 41 Abs. 4 SGG dem Großen Senat des BSG zwei Fragen vorgelegt, die sich mit den Anforderungen an die Revisionsbegründung befassen.

Entscheidung

Der Große Senat entscheidet über den Vorlagebeschluss des ersten Senats und beantwortet die Vorlagefragen dahin, dass

1. eine Revisionsbegründung bei Sachrügen den gesetzlichen Anforderungen des § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG genügt, wenn neben der Stellung eines bestimmten Antrags und der Bezeichnung der verletzten Rechtsnorm die Gründe aufgezeigt werden, die nach Auffassung des Revisionsklägers aufgrund einer rechtlichen Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung das Urteil als unrichtig erscheinen lassen, und

2. die Bezeichnung von Tatsachen bei Sachrügen kein formelles Zulässigkeitserfordernis ist, sondern es der Bezeichnung von Tatsachen nur bedarf, soweit dies zum Verständnis der gerügten Rechtsverletzung unerlässlich ist.

Ausgehend von dem Wortlaut des § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG, wonach die Begründung einen bestimmten Antrag enthalten muss und die verletzte Rechtsnorm zu bezeichnen ist, bedarf es für die Begründung einer Revision, die sich auf Sachrügen beschränkt, keiner ausführlichen Darstellung des Tatbestandes. Etwas anderes gilt, soweit Verfahrensmängel gerügt werden. Dann müssen – so der Gesetzeswortlaut ausdrücklich – auch die Tatsachen bezeichnet werden, die den Mangel ergeben. Der Bezeichnung von Tatsachen bedarf es also nur, soweit dies zum Verständnis der gerügten Rechtsverletzung unerlässlich ist. Nach dem Wortlaut des § 164 SGG bezweckt die Revisionsbegründung, frühzeitig Klarheit zu erzielen über Art, Umfang und Ziel der Revisionsangriffe. Hierzu bedarf es einer rechtlichen Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung. Die Darstellung des Revisionsklägers darf sich nicht in abstrakten formelhaften oder inhaltsleeren Allgemeinplätzen ohne Bezug zum angefochtenen Urteil erschöpfen, sondern muss einen Fallbezug nach den Kriterien der revisionsgerichtlichen Prüfung haben. Es genügt nicht, wenn der Revisionsführer etwa nur um Nachprüfung aller in der angefochtenen Entscheidung aufgeworfenen Rechtsfragen bittet oder die Rechtsauffassung der Vorinstanz schlicht als unrichtig bezeichnet. Es entspricht auch der Systematik des auf der Zulassung beruhenden Revisionsrechts und dem in diesem System maßgeblichen Zweck der Regelung sowie der Garantie effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG, dass die Bezeichnung von Tatsachen bei Sachrügen kein formelles Zulässigkeitserfordernis der Revisionsbegründung ist. Allerdings muss der Revisionskläger aufzeigen, weshalb nach seiner Auffassung aufgrund einer rechtlichen Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung diese  unrichtig sind. Für die Revisionsbegründung bedarf es der Bezeichnung von Tatsachen danach nur, soweit dies zum Verständnis der gerügten Rechtsverletzung unerlässlich ist.

Praxishinweis

1. Der Große Senat betont, dass die Darlegungsanforderungen in der Revision nicht derart streng gehandhabt werden dürfen, dass sie von einem durchschnittlichen, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierten Rechtsanwalt/Rechtsanwältin mit zumutbarem Aufwand nicht mehr erfüllt werden können. Das klingt gut, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das BSG an die im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gemäß § 163 SGG gebunden ist. Unabhängig davon, wie weit in der Revisionsbegründung der Sachverhalt dargelegt oder wiederholt werden muss, muss diese Bindungswirkung auch vom Revisionsführer beachtet werden.

2. Soweit ein Verstoß gegen Verfahrensvorschriften, d.h. des SGG, gerügt wird, muss in der Revisionsbegründung genau bezeichnet werden, welcher Sachverhalt dieser Verfahrensrüge zugrunde liegt. Dies hat erhebliche Bedeutung, auch und gerade soweit es um den Verstoß gegen das rechtliche Gehör oder gegen die Grenzen der Beweiswürdigung gemäß § 128 SGG geht (zu den Anforderungen an eine Revisionsbegründung ausführlich Bieresborn in Plagemann (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Sozialrecht, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 60 ff).

3. In den letzten Jahren haben die verschiedenen Senate des BSG immer wieder Revisionen als unzulässig verworfen, weil die Revisionsbegründung nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprochen habe. Das provoziert nicht nur Haftpflichtansprüche gegen den Bevollmächtigten, sondern unterläuft auch das Vertrauen des Bürgers in die Anwaltschaft, die sich als „Organ der Rechtspflege“ versteht (§ 1 BRAO). Aber auch das BSG muss auf Basis dieses Beschlusses beachten, dass im Revisionsverfahren das materielle Recht insgesamt zu prüfen ist. Auch dann, wenn der Revisionskläger nicht alle Verstöße gegen materielles Recht angegeben hat, kann sich das Revisionsgericht nicht darauf zurückziehen, anderweitige erkennbare Verstöße seien irrelevant.

Redaktion beck-aktuell, 4. Oktober 2018.