LSG Thüringen: Ermittlung der Gesamt-MdE in der Unfallversicherung

SGB VII §§ 56, 73; SGG § 128

In der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Addition einzelner Teil-MdE-Werte in der Regel ausgeschlossen. Zur Ermittlung der Gesamt-MdE sind die einzelnen unfallbedingten Gesundheitsschäden in ihrer „Gesamteinwirkung“ auf die Erwerbsfähigkeit zusammenzufassen. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Thüringen, Urteil vom 30.11.2017 - L 1 U 98/17, BeckRS 2017, 142137

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 14/2018 vom 20.07.2018

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Sachverhalt

Der Kläger hat am 10.01.2011 einen Arbeitsunfall erlitten. Er stürzte aus einer Gitterbox aus großer Höhe auf den Betonboden einer Halle und erlitt dabei ein Polytrauma und diverse Frakturen, und musste danach mehr als fünf Monate stationär behandelt werden. Dabei kam es auch zu einer Wundheilungsstörung der linken Fersenbeinregion mit nachfolgender Infektion. Im ersten Rentengutachten bezifferte der Chirurg die MdE ab dem 21.03.2012 mit 40 %. Ein fachpsychotherapeutisches Zusatzgutachten bewertete eine Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion mit einer MdE von 20 %. Die beklagte BG erkannte als Unfallfolgen eine zweitgradig offene Fersenbeinfraktur links und rechts, Fehlstellung im linken Rückfluss und Beinverkürzung und Arthrose und Spaltberstungsfraktur des zweiten LWK sowie anhaltend brennende Schmerzen in beiden Füßen an und eine eingeschränkte Beweglichkeit im linken oberen und unteren Sprunggelenk. In der Folge wurde zusätzlich eine psychische Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion anerkannt und die MdE ab dem 18.06.2012 auf 50 beziffert.

Dagegen hat der Kläger Widerspruch und sodann Klage erhoben mit dem Antrag, die angefochtenen Bescheide abzuändern und die MdE ab Juni 2012 auf 60 und ab Oktober 2013 auf 70 % zu erhöhen. Im Oktober 2013 sei eine Verschlimmerung der Unfallfolgen auf nervenärztlichem Gebiet eingetreten. Nach Einholung verschiedener Fachgutachten hat das SG der Klage stattgegeben. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Eine Addition der Einzelwerte, nämlich auf chirurgischem Gebiet von 40 und auf psychiatrischem Gebiet von 30, zusammen 70, sei unzulässig. Eine integrierende Gesamtschau sei vorzunehmen.

Entscheidung

Das LSG gibt der Berufung zum Teil statt. Im Zeitraum vom Juni 2012 bis Oktober 2013 betrage die Gesamt-MdE 50 % (und nicht 60 %). Die MdE auf chirurgischem Gebiet ergebe sich im Wesentlichen aus den Funktionsschäden in den Sprunggelenken (für beide Seiten insgesamt 40 %) und der MdE auf psychiatrischem Gebiet, die mit 20 zu bewerten sind (Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion).

Soweit das SG dem Vorschlag des Unfallchirurgen folgt, die MdE auf chirurgischem Gebiet mit 40 % zu der MdE von 20 % wegen der Anpassungsstörung ausnahmsweise zu addieren, folgt der Senat dieser Auffassung nicht. Das SG begründete seine Auffassung damit, dass hier nicht von überlagernden oder sich überschneidenden Funktionseinschränkungen auszugehen sei. Das LSG widerspricht dem und meint, die Funktionseinbußen des Klägers, die den beiden MdE-Werten zugrunde liegen, würden sich erheblich überschneiden. In die Einzel-MdE auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet ist die Sensibilitätsstörung im Bereich der beiden Füße beidseits bereits mit einbezogen. Insoweit ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz bereits aus diesem Grund dieselbe Körperregion betroffen. Die Funktionseinbußen des Klägers, die den beiden MdE-Werten zugrunde liegen, überschneiden sich: die Fersenbeinfrakturen rechts und links mit der Folge einer deutlich eingeschränkten Beweglichkeit und die Schmerzen sind wesentliche Gründe für die psychischen Beeinträchtigungen, unter denen der Kläger leidet. Schmerzen und die üblicherweise vorhandene psychische Beeinträchtigung sind aber grundsätzlich in der Bewertung der somatischen Schäden mit abgebildet. Auch wenn diese Beeinträchtigungen aufgrund ihrer Schwere eine eigenständige Bewertung rechtfertigen, dürfen sie nicht neben einem anderen Funktionssystem vollständig zusätzlich berücksichtigt werden. Dazu stützt sich das LSG auf ein früheres Gutachten, welches seitens des Gerichts von einem Neurologen und Psychiater eingeholt wurde. Dieser hatte allerdings die MdE auf seinem Fachgebiet (einschließlich einer Sensibilitätsstörung) auf 30 % geschätzt.

Praxishinweis

1. Das LSG setzt sich mit kurzen Worten auch mit dem weiteren Vortrag des Klägers auseinander, das Landesverwaltungsamt habe im Rahmen eines Schwerbehindertenverfahrens einen GdB von 70 zugesprochen. Die Bewertungen in Schwerbehindertenverfahren sind in der Tat für die gesetzliche Unfallversicherung nicht maßgeblich. Umgekehrt allerdings hat die Versorgungsverwaltung die seitens der Unfallversicherung festgestellten MdE-Werte zu übernehmen (§ 152 Abs. 2 SGB IX).

2. Der Kläger hat nach dem erlittenen Polytrauma mit Sicherheit noch erhebliche Beschwerden und ist in der Beweglichkeit deutlich eingeschränkt. Das LSG konstatiert, die sozial-kommunikativen Einschränkungen des Klägers seien nicht derart ausgeprägt, dass eine MdE von mehr als 30 % für den Zeitraum ab Oktober 2013 festzusetzen sei. Immerhin sei der Kläger verheiratet und arbeite in Vollzeit als technischer Assistent. Ob solche Art Einzelaspekte die MdE-Bewertung durch einen entsprechenden Sachverständigen tatsächlich zu korrigieren geeignet sind, kann man durchaus bezweifeln.

3. Die Anregung des Klägers, ein weiteres Gutachten einzuholen, lehnt das LSG „mangels Erheblichkeit“ ab. Der Sachverhalt sei ausermittelt. Nach dem Urteilstext kann man dem durchaus folgen. Dennoch: Die Bildung der MdE, auch der gesamten MdE, erfolgt gleichsam „zur gesamten Hand“, zum einen durch den Sozialmediziner, zum anderen durch das Gericht schlussendlich bzw. die Verwaltung (vgl. dazu BSG, FD-SozVR 2017, 388749 m. Anm. Plagemann). Dennoch ist dem LSG insoweit zuzustimmen, da nicht erkennbar ist, welche weiteren Aspekte in einem zusätzlichen Gutachten beigebracht werden können.

4. Das LSG Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 10.11.2017 (BeckRS 2017, 142519) die Anerkennung einer rentenberechtigenden MdE nach einer Einklemmung des 3. und 4. Fingers in einer Ladeluke abgelehnt. Der Verdacht eines chronisch-regionalen Schmerzsyndroms reiche nicht aus. Die Fingerverletzungen, die der dortige Kläger sich beim Unfall zugezogen hat, seien so gut wie folgenlos ausgeheilt. Das regionale Schmerzsyndrom (CRPS) wird als posttraumatisches Schmerzsyndrom einer Extremität verstanden, bei dem die Schmerzen im Vergleich zum erwarteten Heilungsverlauf unangemessen stark sind. Die Symptome müssen – so das LSG ausdrücklich – deshalb außerhalb der Traumastelle auftreten und dürfen sich nicht auf das Innervationsgebiet peripherer Nerven oder Nervenwurzeln beschränken. Dazu nimmt das Gericht auch Bezug auf Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Voraussetzung zur Anerkennung eines CRPS sei es, dass innerhalb von drei Monaten nach dem Akutereignis Entzündungszeichen (Schwellung, Rötung, Wärme, Schmerzen, Funktionsstörungen) auftreten und es im weiteren Verlauf zu einer Blaufärbung der Haut, zu einem Kältegefühl und einer erhöhten Schweißbildung komme.

5. Das LSG Thüringen verweist mit Urteil vom 01.03.2018 (BeckRS 2018, 3912) den Rechtsstreit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das SG zurück, welches die BG zur Zahlung einer Verletztenrente von einer MdE von 40 % (statt der bisher zuerkannten 20 %) verurteilt hatte. Der dortige Kläger war am Unfalltag mit dem rechten Arm in eine Maschine geraten und wurde aufgrund einer Fehlbedienung mit der rechten Hand einschließlich des Unterarms in die Maschine gezogen. Das SG hatte eine Gesamt-MdE von 40 % bejaht, während die beklagte BG den noch verbliebenen Schaden auf deutlich unter 20 % einschätzte und die Verletztenrente entzogen hatte. Hinsichtlich der Unfallfolgen auf psychiatrischem Gebiet habe es – so das LSG ausdrücklich – das SG unterlassen, im Einzelnen darzulegen, von welchem Sachverhalt es ausgehe, wie weit der Kläger durch den Arbeitsunfall in eine lebensbedrohliche Situation geraten sei, in deren Folge sich eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) hätte entwickeln können. Der bloße Hinweis auf eines der psychiatrischen Gutachten reicht nicht aus. Hier sei eine eigenständige Würdigung des Gutachtens erforderlich gewesen, und zwar auch unter Berücksichtigung von beratungsärztlichen Stellungnahmen, die die Berufsgenossenschaft vorgelegt hat. Offensichtlich vermag das LSG die für die Anerkennung einer PTBS erforderliche „psychische Initialreaktion“ im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Unfall nicht zu erkennen.

Redaktion beck-aktuell, 24. Juli 2018.