LSG Bayern: Keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Berufungsfrist wegen fehlgeschlagener Übermittlung eines Berufungsschriftsatzes über das besondere elektronische Anwaltspostfach

ZPO §§ 130a V 2, 85 II; SGG §§ 65a, 67, 151 I, 64, 65a, 67, 151 I

Die Versäumung der Berufungsfrist wegen fehlgeschlagener Übermittlung eines Berufungsschriftsatzes über das besondere elektronische Anwaltspostfach geschah nicht "ohne Verschulden", wenn der bevollmächtigte Rechtsanwalt den Büroablauf in seiner Kanzlei nicht so organisiert hat, dass jedenfalls für fristwahrende Schriftsätze stets eine Prüfung des Erhalts der Eingangsbestätigung des Gerichts durchgeführt wird. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Bayern, Beschluss vom 03.01.2018 - 17 U 298/17, BeckRS 2018, 654

Anmerkung von
Rechtsanwalt Martin Schafhausen, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 06/2018 vom 16.03.2018

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Sachverhalt

In einer BK-Sache hatte das SG die Klage mit Urteil vom 26.06.2017, zugestellt am 17.07.2017, zurückgewiesen. Mit Schriftsatz vom 11.08.2017 soll die anwaltlich vertretene Klägerin gegen das Urteil Berufung eingelegt haben. Der Bevollmächtigte trägt dabei im Wiedereinsetzungsantrag vor, man habe das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) verwenden wollen. Ein Anruf bei dem LSG habe ergeben, dass die Berufungsschrift dort nicht eingegangen sei. Im Wiedereinsetzungsantrag trägt der Bevollmächtigte der Klägerin vor, ein Ausgangsdokument sei in der Kanzlei nicht festzustellen. Der Vorgang sei nicht erklärlich, es gebe aber einen festgefahrenen Ablauf für die Übermittlung von Schriftsätzen über das beA. Ein Verschulden sei nicht festzustellen. Die Kompatibilität zwischen beA und dem von den Sozialgerichten genutzten elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) scheine nicht hundertprozentig zu klappen. Bei beA handele es sich um eine völlig neue Materie.

Entscheidung

Das LSG verwirft die Berufung durch Beschluss als unzulässig, Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren.

Die Berufung sei verfristet, nicht innerhalb der Monatsfrist des § 151 Abs. 1 SGG bei dem SG oder dem LSG eingegangen. In der bay. Sozialgerichtsbarkeit sei der elektronische Rechtsverkehr eröffnet (§ 65a SGG i.V.m. der bis zu 31.12.2017 geltenden (bay.) ERVV SG). Dabei übermittele das Gericht immer eine Eingangsbestätigung bei dem ordnungsgemäßen Eingang eines Schriftsatzes (so auch § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung). Der (fristgemäße) Eingang einer Berufungsschrift sei weder über das EGVP des Gerichts oder sonst festzustellen.

Auch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren. Es sei schon zweifelhaft, ob die Klägerin die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Monats-Frist des § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG nachgeholt habe. Die anwaltlich vertretene Klägerin habe zwar einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt, nicht aber zweifelsfrei auch Berufung eingelegt. Zugunsten der Klägerin lege das Gericht den Wiedereinsetzungsantrag so aus, dass auch die Berufungseinlegung nachgeholt werden sollte.

Wiedereinsetzung könne jedoch nicht gewährt werden, die Klägerin habe nicht unverschuldet die Berufungsfrist versäumt. Auch für die Wiedereinsetzung im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs seien die allgemeinen Regeln zu beachten. Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten stehe dem Verschulden der Klägerin gleich. Ein Verschulden von Hilfspersonen sei nicht zuzurechnen; in diesem Zusammenhang könne den Bevollmächtigten aber ein Auswahl- und Überwachungsvorschulden treffen. Wie bei der Übersendung eines Schriftsatzes per Telefax sei auch bei der Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs für eine wirksame Ausgangskontrolle des auf diesem Übertragungsweg versandten Schriftsatzes zu sorgen (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, NJW 2007, 3224). Weder sei ersichtlich, dass eine wirksame Ausgangskontrolle stattgefunden habe, noch sei zu erkennen, dass angeordnet gewesen sei, zu kontrollieren, ob eine Eingangsbestätigung vorlag. Gerade in der Anfangszeit der Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs sei eine erhöhte Sorgfalt zu beachten.

Praxishinweis

1. Den Wiedereinsetzungsantrag zu stellen ist das eine, die versäumte Rechtshandlung ausdrücklich nachzuholen, ist das andere. Hierzu bestand in dem der zu besprechenden Entscheidung zugrundeliegenden Sache Anlass. Der Anruf des Bevollmächtigten der Klägerin hatte ergeben, dass bei dem LSG ein Berufungsschriftsatz nicht vorlag. Die Berufung musste nachgeholt werden. Sich auf die wohlwollende Auslegung des Gerichts zu verlassen, scheint gefährlich.

2. Auch das Bayerische LSG bestätigt, dass für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei der Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs die Regeln gelten, die die Rechtsprechung zur Nutzung eines Telefax-Geräts entwickelt hat. Anders als bei dem Sendeprotokoll bei der Telefax-Übermittlung spricht dabei aber einiges dafür, der Empfangsbestätigung, die beim elektronischen Rechtsverkehr nach Eingang des Dokuments auf dem Intermediär des Gerichts übermittelt wird, den Beweis des ersten Anscheins für den Zugang des Dokuments bei dem Gericht zuzuerkennen (VGH Kassel, NJW 2018, 417; Müller, Wiedereinsetzungsregelungen kennen keine besondere Milde für "Early Adopter", http://ervjustiz.de/wiedereinsetzungsregelungen-kennen-keine-besondere-milde-fuer-early-adopter#more-660; in dieser Richtung auch Bacher, NJW 2015, 2753, 2756).

3. Anhaltspunkte für technische (Empfangs-)Probleme, Fehler oder dergleichen ergaben sich offensichtlich in der vorliegenden Angelegenheit nicht. In diesem Zusammenhang wird man zu erwägen haben, den sich aus § 130d Satz 2 ZPO (in der ab 01.01.2022 geltenden Fassung, Art. 1 Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10.10.2013 BGBl. I S. 3786) ergebenden Rechtsgedanken auf Wiedereinsetzungsfälle, die auf technische Schwierigkeiten zurückzuführen sind, schon vor Inkrafttreten dieser Regelung zu übertragen. Danach ist bei vorübergehender technischer Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung eines Schriftsatzes die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig. Die vorübergehende Unmöglichkeit ist bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen. Auf Aufforderung durch das Gericht ist ein elektronisches Dokument nachzureichen.

Um mögliche technische Fehler bei der Übertragung, die nicht aus der Sphäre des Versenders stammen, dokumentieren zu können, empfiehlt es sich, den sog. EGVP-Newsletter zu abonnieren. Dort sind auch die aktuellen Störungsmeldungen dokumentiert: https://egvp.justiz.de/meldungen/index.php.

4. Auf einen weiteren Fehler, der dafür spricht, dass die Berufungsschrift tatsächlich nicht versandt worden war, macht Müller (a.a.O.) aufmerksam. Es handelte sich um einen "ERV-Altfall", d.h. die über den EGVP-Client oder das beA zu versendenden Schriftsätze waren qualifiziert zu signieren. Das ist nach einer Änderung des § 65a SGG ab Januar 2018 dann nicht mehr erforderlich, wenn die Rechtsanwältin oder der Rechtsanwalt selbst einen Schriftsatz aus dem eigenen beA an das Gericht verschicken; bei dem beA handelt es sich um einen sicheren Übermittlungsweg i.S.v. § 65a Abs. 3, Abs. 4 Nr. 2 SGG. Eine qualifizierte elektronische Signatur ist nur dann erforderlich, wenn der Schriftsatz von einem nichtanwaltlichen Mitarbeiter oder Mitarbeitern versandt wird.

Redaktion beck-aktuell, 21. März 2018.