LSG Sachsen: Aussparung von (rechtswidrigen) Leistungen

SGB X §§ 45, 48; SGB VII §§ 7, 8

Rechtswidrig i.S.d. § 45 SGB X ist ein Verwaltungsakt, wenn der ursprüngliche Bescheid aus damaliger Sicht so nicht hätte ergehen dürfen. Die für die Rentenbewilligung geltenden Grundsätze des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung sind in gleicher Weise anzuwenden, wenn sich nachträglich herausstellt, dass ein Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden entgegen der ursprünglichen Annahme nicht hinreichend wahrscheinlich ist.  (Leitsatz des Verfassers)

LSG Sachsen, Urteil vom 23.03.2017 - S 5 U 22/14, BeckRS 2017, 119986

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 19/2017 vom 29.09.2017

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Sachverhalt

Die Beteiligten streiten um die Rechtsmäßigkeit der Aussparung von Leistungen gem. § 48 Abs. 3 SGB X hinsichtlich eines Arbeitsunfalls vom 04.03.2006 sowie um die Anerkennung eines weiteren Ereignisses vom 06.02.2012 als Arbeitsunfall.

Die Klägerin war am 04.03.2006 als Krankenschwester im Nachtdienst tätig. In der Unfallanzeige vom 28.03.2006 führte sie aus, dass am Unfalltag ein Patient beim Aufstehversuch ohnmächtig wurde und unverhofft zur Seite kippte. Beim Versuch, ihn zusammen mit einer Kollegin festzuhalten, verspürte sie Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule (HWS), so dass der Patient auf dem Boden abgesetzt werden musste. Nachdem die Klägerin zunächst weitergearbeitet hatte, vom 06. bis 10.03.2006 wegen der Krankschreibung ihres Sohnes dienstfrei hatte, ließ sie sich wegen der beim Versuch der Wiederaufnahme der Tätigkeit auftretenden Beschwerden am 13.03.2006 wegen akuten zervikalen Schmerzsyndroms behandeln. Später wurde im MRT ein Bandscheibenvorfall in Höhe HWK 5/6 festgestellt. Nach Einholung eines Gutachtens erteilte die beklagte BG einen Bescheid, mit dem sie das Ereignis als Arbeitsunfall anerkannte und eine endgradige Einschränkung der Seitneigung der HWS sowie einen geringgradig erhöhten Kinn-Spitzen-Schulter-Höhenabstand nach Massenvorfall mit klinisch imponierender zervikaler Myelopathie als Unfallfolgen feststellte.

Am 06.02.2012 wollte die Klägerin während ihrer Tätigkeit als Krankenschwester eine aus dem Bett gefallende Patientin hochheben und verspürte einen starken Schmerz am linken Arm und im Bereich der HWS. Mit angefochtenem Bescheid vom 17.09.2012 lehnte die Beklagte die Feststellung des Ereignisses vom 06.02.2012 als Arbeitsunfall ab. Dem widersprach die Klägerin. Nach Anhörung der Klägerin stellte die Beklagte mit angefochtenem Bescheid vom 19.12.2012 fest, dass der Bescheid vom 18.01.2007 insoweit rechtswidrig gewesen sei, als das Ereignis vom 04.03.2006 als Arbeitsunfall anerkannt und Unfallfolgen festgestellt worden seien. Die nach dem Erlass des ursprünglichen Verwaltungsaktes vom 18.01.2007 eingetretenen Änderungen in Gestalt einer Verschlimmerung der rechtswidrig anerkannten Unfallfolgen und daraus ggf. resultierende Heilbehandlungen bzw. sonstige Leistungen würden ausgespart. Zukünftig eintretende Änderungen der rechtswidrig anerkannten Unfallfolgen würden unter Anwendung des § 48 Abs. 3 SGB X nicht berücksichtigt. Die Klägerin legte auch gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Darauf holte die Beklagte ein neues Gutachten ein, welches bezüglich beider Ereignisse keine unfallbedingten Schäden feststellen konnte. Mit zwei Widerspruchsbescheiden wies die Beklagte die Widersprüche gegen die beiden Bescheide zurück, wogegen die Klägerin Klage erhob. Sie habe jeweils Unfälle erlitten, durch die es zu Bandscheibenvorfällen gekommen sei. Das SG hat ein weiteres Gutachten eingeholt, welches hinsichtlich beider Ereignisse lediglich eine Zerrung der HWS anerkannte. Mit angefochtenem Gerichtsbescheid hat das SG die Klage abgewiesen unter Bezug auf das eingeholte Gutachten und die sozialmedizinische Literatur. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin.

Entscheidung

Das LSG weist die Berufung zurück. Nach § 48 Abs. 3 SGB X darf unter der Voraussetzung, dass ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann, die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Sind Unfallfolgen zu Unrecht anerkannt, können auch hieraus resultierende Leistungen, wie z.B. Heilbehandlungen, eingefroren werden. Voraussetzung ist die Feststellung der ursprünglichen Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides. Der erneuten Zusammenhangsbeurteilung sind demgemäß auch die ursprünglich vorhandenen allgemeinen medizinischen Erkenntnisse zugrunde zu legen, neuere Erkenntnisse, z.B. über Folgen bestimmter Unfallmechanismen, dürfen dagegen für die Beurteilung im Einzelfall nicht herangezogen werden. Nach diesen Maßstäben war die Feststellung der Unfallfolgen im Bescheid der Beklagten vom 18.01.2007 rechtswidrig. Eine Unfallfolge wie im Bescheid beschrieben lässt sich nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf das Ereignis selbst zurückführen. Daran ändert auch nichts, dass vor dem Unfall eine Bandscheibenschädigung klinisch noch nicht erkennbar war. Mehrere Gutachter habe als herrschende medizinische Lehrmeinung den medizinischen Erfahrungssatz „kein Prolaps ohne strukturelle Begleitverletzungen“ bestätigt. Begleitende, wenn auch minimale, knöcherne oder Bandverletzungen im vom Bandscheibenvorfall betroffenen Segment müssen vorliegen.

Auch das Geschehen am 06.02.2012 trat in Ansehung des gesicherten Vorschadens als unwesentlich zurück, da sich wiederum keine strukturellen (Begleit-)Verletzungen fanden.

Praxishinweis

1. Das Pflegepersonal in Krankenhäusern und Pflegeheimen ist besonderen Belastungen was die Wirbelsäule anlangt ausgesetzt, weshalb hier auch die Anerkennung einer bandscheibenbedingten Berufskrankheit i.S.d. Nr. 2108 BKV denkbar ist (vgl. Schönberger/Mehrtens, Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 2017, S. 524 f.). Dennoch werden isolierte Bandscheibenvorfälle i.d.R. nicht als Arbeitsunfall anerkannt (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, BeckRS 2016, 112158).

2. Hinsichtlich des ersten Ereignisses vom 04.03.2006 hat die „Aussparung“ zur Folge, dass die im (bestandsgeschützten) Bescheid vom 18.01.2007 anerkannten Schäden nicht mehr auf Kosten der BG behandelt werden. Die „Aussparung“ bedeutet also, dass Leistungen, die ursprünglich bewilligt wurden, nun entfallen, nämlich der Anspruch auf bg-liche Behandlung und ggf. Verletztengeld. Hätte die BG auf Basis des bestandsgeschützten Bescheides eine Verletztenrente gewährt, hätte die „Aussparung“ gem. § 48 Abs. 3 SGB X zur Folge, dass diese Verletztenrente auf Dauer nicht dynamisiert wird, aber im bisherigen Umfang fortgezahlt wird.

Redaktion beck-aktuell, 5. Oktober 2017.