BSG: Ist Leiharbeit doppelt versichert?

SGB IV §§ 3, 28e; AÜG § 10

Der inländische Entleiher haftet auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag auch dann, wenn der Verleiher mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedsland nach dortigem Recht den Sozialversicherungsbeitrag aus dem dort gezahlten Entgelt in vollem Umfang entrichtet hat. (Leitsatz des Verfassers)

BSG, Urteil vom 29.06.2016 - B 12 R 8/14 R, BeckRS 2016, 74709

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 18/2017 vom 15.09.2017

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Sachverhalt

Der Kläger ist Inhaber eines in Deutschland ansässigen Metall- und Maschinenbauunternehmens. Der Beigeladene zu 1) war Arbeitnehmer der in Luxemburg ansässigen K. Montagebau AG und wurde von dieser von 01.12.2000 bis 28.02.2007 als Leiharbeitnehmer an den Kläger überlassen. Sozialversicherungsbeiträge und Lohn zahlte die AG nach luxemburgischem Recht. Die in Luxemburg ansässige K AG hatte eine Erlaubnis zur gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung nur für die Zeit von April 2000 bis April 2001.

Die beklagte DRV Bund fordert im Rahmen einer Betriebsprüfung gem. § 28p SGB IV von der Klägerin Sozialversicherungsbeiträge einschließlich Säumniszuschläge i.H.v. 41.350 EUR für den Zeitraum vom 01.12.2003 bis 28.02.2007. In diesem Zeitraum sei der Arbeitsvertrag zwischen der K AG und dem Beigeladenen nach § 9 AÜG unwirksam gewesen. Nach § 10 AÜG gelte ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen als zustande gekommen. Hierauf sei nach dem Territorialitätsprinzip ausschließlich das Recht am Beschäftigungsort, also deutsches Sozialversicherungsrecht, anzuwenden.

Widerspruch und Klage waren erfolglos. Das LSG hebt den Bescheid auf mit der Begründung, der Kläger habe dem Beigeladenen zu 1) kein Arbeitsentgelt geschuldet, da der Verleiher dem Leiharbeitnehmer tatsächlich die volle Vergütung gezahlt hat, so dass der Lohnanspruch des Leiharbeitnehmers gem. § 422 BGB insoweit befriedigt sei. Nach § 28e Abs. 2 Satz 3 SGB IV habe der Verleiher, wenn er das vereinbarte Arbeitsentgelt an den Leih­arbeitnehmer zahle, obwohl der Vertrag nach § 9 AÜG unwirksam sei, auch den hierauf ent­fallenden Gesamtsozialversicherungsbeitrag an die Einzugsstelle zu zahlen. Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 10 AÜG sowie des § 28e SGB IV. Der Kläger habe den Gesamtsozialversicherungsbeitrag auf Grund der Fiktion eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen ihm und dem Beigeladenen zu zahlen.

Entscheidung

Das BSG gibt der Berufung der Beklagten statt und weist die Klage insgesamt ab. Unter Anwendung deutschen Sozialversicherungsrechts hat der Kläger den Gesamtsozialversicherungsbeitrag für den kraft Gesetzes versicherten Beigeladenen als dessen Arbeitgeber zu zahlen. Zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen bestand im streitigen Zeitraum ein Arbeitsverhältnis, da es an einer wirksamen Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung gefehlt habe. Dabei spielt es keine Rolle, dass die K AG ihren Sitz in Luxemburg hatte. Aufgrund des Territorialitätsprinzips gelten die Vorschriften des AÜG auch für ausländische Verleiher, die Arbeitnehmer – wie hier – grenzüberschreitend nach Deutschland überlassen.

Anders als vom LSG ausgeführt, war der Beigeladene beim Kläger auch „gegen Arbeitsentgelt“ beschäftigt. Der Beigeladene zu 1) hatte gegen den Kläger einen Vergütungsanspruch aus dem durch das AÜG fingierten Arbeitsverhältnis. Für das Entstehen eines solchen Anspruchs ist es ohne Bedeutung, dass der Beigeladene Arbeitsentgelt bereits von der K AG ausgezahlt bekommen hatte. Im Beitragsrecht der Sozialversicherung gelte das Entstehungsprinzip. Demnach entsteht die Beitragspflicht schon, sobald die gesetzlichen Voraussetzungen des Vergütungsanspruchs vorliegen. Dies ergibt sich aus § 10 AÜG i.V.m. § 611 BGB. Dass im vorliegenden Fall die Zahlung des Arbeitsentgelts nicht durch den Kläger als Entleiher, sondern durch die K AG als Verleiherin im Rahmen des fehlerhaften Arbeitsverhältnisses erfolgte, führt nicht dazu, dass es am sozialversicherungsrechtlich relevanten Merkmal der Entgeltlichkeit mangelt. Zwar bewirkt die Zahlung des Verleihers nach § 422 BGB grundsätzlich, dass der Vergütungsanspruch des Leiharbeitnehmers gegen den Entleiher aus dem (fingierten) Arbeitsverhältnis erlischt. Es gilt im Übrigen deutsches Sozialversicherungsrecht, wonach das zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen bestehende Beschäftigungsverhältnis die Beitragspflicht auslöst.

Einer Vorlage an den EuGH bedarf es nicht, da auch bei unterstellter Geltung der EWG-VO 1408/71 deutsches Sozialversicherungsrecht zur Anwendung käme. Denn nach Art. 13 Abs. 2 EWG-VO 1408/71 besteht Sozialversicherungspflicht grundsätzlich in dem Land, in dem eine unselbständige Tätigkeit tatsächlich ausgeübt wird. Eine Bescheinigung des luxemburgischen Sozialversicherungsträgers (A1), wonach das eigene System der sozialen Sicherung auf den Beigeladenen während der Dauer dessen Überlassung nach Deutschland anwendbar bleibt, hat das LSG nicht festgestellt. Durch die Zahlung von Beiträgen der K AG an den luxemburgischen Träger ist der Beitragsanspruch der Beklagten nicht erloschen.

Praxishinweis

1. Die Argumentation der Vorinstanz war überzeugender: Dass die fehlende Genehmigung zur Arbeitnehmerüberlassung ein fiktives Beschäftigungsverhältnis zur Klägerin auslöst, ist unbestritten. Dieses fiktive Beschäftigungsverhältnis vermittelt dem Beigeladenen aber nur dann und insoweit einen Anspruch auf Arbeitsentgelt, als der eigentliche Vertragspartner, nämlich die luxemburgische K AG, den vereinbarten Lohn nicht zahlt (vgl. zur Vorinstanz Plagemann, FD-SozVR 2014, 360492).

2. Dem Beigeladenen vermittelt das Urteil zusätzliche Rentenansprüche, wenn er zuvor schon einmal in der Bundesrepublik versichert war. Wenn nicht, kann er auf Basis der nun ihm zuzurechnenden rentenrechtlichen Zeiten von 01.12.2003 bis 28.02.2007 freiwillige Beiträge nach § 7 SGB VI entrichten mit der Folge, dass er die Wartezeit für die Regelaltersrente erfüllt. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 2 SGB VI liegt nicht vor, da eine Vollrente nach deutschem Recht noch nicht „bindend“ bewilligt wurde.

3. Die umfassenden Änderungen des AÜG ab 01.04.2017 ändern nichts an der Entleiher-Haftung in Fällen der illegalen Arbeitnehmerüberlassung. Ob die Entleiher-Haftung nun aber einen doppelten Versicherungsschutz legitimiert, erscheint im Lichte auch des EU-Rechts mehr als zweifelhaft: Hätte der Verleiher seinen Sitz in Deutschland gehabt und hier SV-Beiträge entrichtet, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, vom Entleiher die gleichen Beträge nochmals anzufordern.

4. Für alle Entleiher gilt: Größte Vorsicht ist aufzubringen, was die Genehmigung zur Arbeitnehmerüberlassung bei dem Verleiher und die Dauer der Ausleihe und die Gleichbehandlung mit dem Stammpersonal anlangt. Zu klären wäre, ob der Verleiher mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedsstaat von der dortigen Sozialversicherung unbeschadet der rechtswirksamen Genehmigung zur Arbeitnehmerüberlassung eine A1-Bescheinigung erlangen kann und welchen Rechtswert diese dann hat.

Redaktion beck-aktuell, 20. September 2017.