LSG Baden-Württemberg: Kein Ausstieg aus der GKV

SGB V §§ 5, 10, 188, 223

1. Wenn Personen kraft Gesetzes aus einer vorhergehenden Versicherungspflicht nach §§ 5 oder 10 SGB V ausscheiden und sich nicht nahtlos erneut ein Tatbestand einer vorrangigen Versicherungspflicht angeschlossen hat, tritt „freiwillige“ Krankenversicherungspflicht gem. § 188 Abs. 4 SGB V ein.

2. Der Austritt aus dieser freiwilligen Versicherung ist nur wirksam, wenn das Mitglied das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall nachweist. Das ist angesichts des Schutzzwecks der Norm verfassungsrechtlich unbedenklich und verstößt nicht gegen Art. 3 GG. (Leitsätze des Verfassers)

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2017 - L 11 KR 701/16, BeckRS 2017, 119015

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 17/2017 vom 1.9.2017

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Sachverhalt

Der 1974 geborene Kläger wendet sich gegen eine Beitragsforderung seitens der beklagten Krankenkasse und begehrt die Feststellung, dass er nicht bei der Beklagten freiwillig krankenversichert ist.

Der Kläger war ab 01.01.2006 bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert, zuletzt bis zum 27.08.2014 aufgrund des Bezuges von Alg I. Anschließend war er nicht beschäftigt und bezog auch keine Leistungen nach dem SGB II, SGB III oder SGB XII. Am 02.09.2014 bat der Kläger die Beklagte telefonisch, seine Krankenversicherung ruhen zu lassen. Diese Bitte wiederholte er auch schriftlich. Mit Bescheid vom 10.11.2014 teilte die Beklagte – auch im Namen der Pflegeversicherung – dem Kläger mit, dass er ab dem 28.08.2014 als freiwilliges Mitglied bei ihr krankenversichert sei, mit Änderungsbescheid wurde der Mindestbeitrag von 137,33 EUR zur Kranken- und von 24,57 EUR zur Pflegeversicherung festgesetzt. Die Zahlung der rückständigen Beiträge mahnte die Beklagte an. Mit „Leistungsbescheid/vollstreckbarer Ausfertigung“ teilte die Beklagte dem Kläger unter dem 14.04.2015 mit, dass rückständige Beiträge i.H.v. 994,73 EUR bestünden und kündigte die Zwangsvollstreckung an.

Am 30.04.2015 erhob der Kläger Klage zum SG und beantragte gleichzeitig, ihm einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren mit dem Ziel, die Zwangsvollstreckung aus dem Leistungsbescheid vorläufig einzustellen. Dieser Antrag wurde abgelehnt, Rechtsmittel nicht eingelegt. Das SG weist die Klage als unzulässig zurück, da gegen den Leistungsbescheid zunächst das Widerspruchsverfahren durchgeführt werden müsse. Im Übrigen sei nicht erkennbar, dass der Leistungsbescheid nichtig sei. Die freiwillige Anschlussversicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V verstoße auch nicht gegen höherrangiges Recht. Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers, der rügt, dass ihm letztlich eine Zwangsmitgliedschaft ohne Beendigungsmöglichkeit aufgezwungen werde, was gegen seine Grundrechte verstoße.

Entscheidung

Das LSG weist die Berufung zurück. Die Klage auf Feststellung der Nichtigkeit ist gem. § 55 SGG zwar zulässig aber unbegründet, da der Bescheid keineswegs offensichtlich rechtswidrig ist. Soweit der Kläger die Feststellung begehrt, dass zwischen ihm und der Beklagten kein Krankenversicherungsverhältnis besteht, handelt es sich um eine Klage auf Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses gem. § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Diese Feststellungsklage ist jedoch unzulässig, da der Grundsatz der Subsidiarität entgegensteht. Der Kläger war gehalten, gegen den Leistungsbescheid zunächst das Widerspruchsverfahren durchzuführen.

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass für Mitglieder der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung sich das Versicherungsverhältnis nach § 188 Abs. 4 SGB V als freiwillige Mitgliedschaft fortsetzt, soweit das bisher pflichtversicherte Mitglied aus dieser Versicherungspflicht ausscheidet und die Voraussetzungen für einen wirksamen Austritt nicht vorliegen. Der Austritt wird nur wirksam, wenn das Mitglied eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall nachweist, § 188 Abs. 4 Satz 2 SGB V. An einem solchen Nachweis fehlt es vorliegend, weshalb die Beklagte den Kläger zu Recht in die freiwillige Anschlussversicherung aufgenommen hat und den Mindestbeitrag, nämlich den 90. Teil der monatlichen Bezugsgröße je Kalendertag von ihm verlangt (§ 240 Abs. 4 Satz 1 SGB V).

Die Vorschrift des § 188 Abs. 4 SGB V über die Anschlussversicherung ist verfassungsrechtlich unbedenklich. In welchem Umfang der Gesetzgeber Systeme der gesetzlichen Sozialversicherung bildet und ausgestaltet, unterliegt seinem Gestaltungsermessen. Versicherungszwang und Beitragspflichten und damit eine Einschränkung von Freiheitsrechten sind insofern unvermeidlich (jurisPK-SGB V/Schlegel, 3. Aufl. 2016, § 1 Rn. 70 ff.). Die gesetzliche Krankenversicherung dient dem sozialen Schutz der Absicherung vor den finanziellen Risiken von Erkrankungen. Sie basiert auf einem umfassenden sozialen Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken, vor allem zwischen Versicherten mit niedrigem Einkommen und solchen mit höherem Einkommen sowie zwischen Alleinstehenden und Personen mit unterhaltsberechtigten Familienangehörigen. Die Gründe für die Regelung des § 188 Abs. 4 SGB V sind sachlich nachvollziehbar.

Praxishinweis

1. Die Entscheidung entspricht zu 100 % dem geltenden Recht, auch wenn die dieser Entscheidung zugrundeliegende Kontroverse aktuell ist: Die politisch hoch emotional geführte Diskussion um die Einführung und Abschaffung von Obama-Care – eine Versicherungspflicht für alle – zeigt das Unbehagen einer großen Zahl von Wahlbürgern und Politikern an einer „Krankenversicherungspflicht für alle“.

2. Die verfassungsrechtlichen Argumente des Klägers werden in der Entscheidung nur kursorisch widergegeben. Sie sind an vielen Stellen intensiv reflektiert worden (vgl. nur Axer, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats, Band 2, 2015, S. 721 ff.; LSG Sachsen-Anhalt, BeckRS 2016, 123038). Das Thema Versicherungs- und Beitragspflicht und Grundrechte ist also „abgearbeitet“. Dennoch mehren sich auch in der politischen Landschaft der Bundesrepublik die Stimmen, die für ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ plädieren (vgl. nur die Ausführungen von Opielka, in: Masuch/Spellbrink/Becker/Leibfried, Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats, Band 2, 2015, S. 742 ff., zum Thema „Grundeinkommen als zentrale sozialpolitische Innovation“). Wer für ein bedingungsloses Grundeinkommen plädiert, muss wohl gleichzeitig das System der gesetzlichen Krankenversicherung abschaffen und die Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen in die Hände des Gewährleistungsstaats legen – analog dem System des National Health in Großbritannien. Diese Option wird vielleicht dem Petitum des Klägers entsprechen oder jedenfalls näherkommen. Schlussendlich verschafft das englische System aber – soweit aus EU-Perspektive erkennbar – dem Einzelnen im Leistungsfall nicht mehr an Verlässlichkeit, sondern der Patient trifft auf ein eher noch komplizierteres System der Leistungsverschaffung (zum ähnlichen Problem in Griechenland: Danner. ZESAR 2017, 328, 332).

3. Auf die grundsätzlichen Einwände des Klägers gegen die Weiterversicherung hat die Kasse von der Anforderung des Höchstbeitrags Abstand genommen und den Mindestbeitrag festgesetzt mit der Unterstellung, der Kläger verfüge nicht über Einkünfte, die nach § 240 SGB V der Beitragsberechnung zugrunde zu legen seien. Diese Entscheidung mag „klägerfreundlich“ sein, entspricht aber nicht der Realität: Die Kasse kann nur dann den Mindestbeitrag zugrunde legen, wenn sie sich tatsächlich ein Bild über die Einkommensverhältnisse des freiwillig Versicherten gemacht hat. Verfügt dieser über keine eigenen Einkünfte, sondern lebt von Zuwendungen Dritter, muss geprüft werden, wieweit diese Zuwendungen das der Berechnung des Mindestbeitrags zugrundeliegende Mindesteinkommen übersteigen (vgl. dazu auch Bernsdorff, in: jurisPK-SGB V, 3. Aufl., § 240 Rn. 27 und 28).

Redaktion beck-aktuell, 5. September 2017.