LSG Niedersachsen: Bescheinigung des Arbeitgebers über beitragspflichtige Einnahmen kurz vor dem Rentenbeginn

SGB VI §§ 70, 163, 194

Rentenbewerber haben gem. § 194 SGB VI ein „Wahlrecht“, was die Bescheinigung des Arbeitgebers über beitragspflichtige Einnahmen kurz vor dem Rentenbeginn anlangt. Zur sachgerechten Ausübung des Wahlrechts bedarf es auf Seiten der Versicherten der Kenntnis der jeweiligen Vor- und Nachteile einer Hochrechnung über die beitragspflichtigen Entgelte in den letzten drei Kalendermonaten vor dem Versicherungsfall. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Niedersachsen, Urteil vom 16.11.2016 - L 2 R 328/16, BeckRS 2016, 74745

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 01/2017 vom 20.01.2017

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Sachverhalt

Der Kläger begehrt eine Neuberechnung der ihm seitens der Beklagten gewährten Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 01.05.2013. Bei der Berechnung der Höhe dieser Rente hat die Beklagte im Rahmen einer sog. Hochrechnung für die Monate Februar bis April 2013 ein beitragspflichtiges Entgelt i.H.v. 15.719 EUR in Ansatz gebracht. Diesen Betrag hatte die Beklagte errechnet, indem sie das vom Arbeitgeber gemeldete versicherungspflichtige Entgelt für den Zeitraum 2012 „hochgerechnet hat“. Der bis zum April 2007 bei der Firma H beschäftigte Kläger trat in Umsetzung eines entsprechenden Sozialplans mit Wirkung zum 01.05.2007 in die Dienste der I GmbH. Diese vereinbarte mit ihm ein Altersteilzeitverhältnis, unter Freistellung vom 01.05.2010 bis 30.04.2013. Vereinbart war ein hälftiges Arbeitsentgelt, welches jedoch gemäß Altersteilzeitgesetz aufgestockt wurde. Tatsächlich betrug das beitragspflichtige Einkommen monatlich 5.040 EUR, woraus die entsprechenden Beiträge abgeführt wurden. Mit Schreiben vom 25.08.2013 bat der Kläger die Beklagte, die Rente neu zu berechnen auf Basis der für ihn tatsächlich gezahlten beitragspflichtigen Entgelte. Dies lehnte die Beklagte mit angefochtenem Bescheid ab mit der Begründung, dass der im Rahmen der mit Zustimmung des Klägers vorgenommenen Hochrechnung ermittelte Betrag nach den Vorgaben des § 194 SGB VI bindend sei. Das SG weist die Klage mit der entsprechenden Begründung zurück. Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers.

Entscheidung

Das LSG gibt der Berufung statt. Die Beklagte ist nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verpflichtet, die dem Kläger seit Mai 2013 gewährte Altersrente unter Abänderung des Rentenbescheides vom 05.02.2013 mit der Maßgabe neu zu berechnen, dass für den Beitragszeitraum Februar bis April 2013 anstelle des bislang berücksichtigten beitragspflichtigen Entgelts i.H.v. 15.719 EUR ein solches i.H.v. 16.342 EUR in Ansatz gebracht wird. Nach dem ab 01.01.2008 geltenden § 194 Abs. 1 SGB VI haben Arbeitgeber auf Verlangen des Rentenantragstellers die beitragspflichtigen Einnahmen für abgelaufene Zeiträume frühestens drei Monate vor Rentenbeginn gesondert zu melden. Erfolgt eine derart gesonderte Meldung, errechnet der Rentenversicherungsträger bei Anträgen auf Altersrente die voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahmen für den verbleibenden Beschäftigungszeitraum bis zum Rentenbeginn. Weicht die tatsächlich erzielte beitragspflichtige Einnahme von der durch den Rentenversicherungsträger errechneten voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahme ab, bleibt das gem. § 70 Abs. 4 Satz 2 SGB VI für diese Rente außer Betracht. Dies zielt auf die Sicherstellung der beschleunigten Erstfeststellung einer Altersrente. Da diese Art der Entgeltschätzung nach § 194 Abs. 1 Satz 1 SGB VI nur „auf Verlangen“ des Rentenantragstellers in Betracht kommt, bedarf es zur sachgerechten Ausübung seines Wahlrechts der Kenntnis der jeweiligen Vor- und Nachteile der Hochrechnung. Dies bedingt, dass die vom Rentenversicherungsträger übermittelten Informationen korrekt und verständlich sind. Für den im Rentenversicherungsrecht nicht kundigen Versicherten muss insbesondere aufgrund der Informationen seitens der DRV klar erkennbar werden, dass eine Hochrechnung nur auf Verlangen des Rentenantragstellers erfolgt und dass mit der Entscheidung für die Hochrechnung ein Neufeststellungsverbot in dem Sinne verbunden ist, dass es bei einem Abweichen des hochgerechneten beitragspflichtigen Arbeitsentgelts von dem tatsächlich erzielten beitragspflichtigen Entgelt dennoch fortdauernd bei der bisherigen Berechnung der Altersrente verbleibt (vgl. dazu auch BSGE 110, 8). Diesen Erfordernissen genügt das hier verwendete Rentenantragsformular in keiner Weise. Der objektive Gehalt der schriftlichen Erläuterungen in dem Antragsformular sei – so das LSG – eher dazu geeignet, die Existenz des vom Gesetzgeber vorgesehenen Wahlrechts zu verdunkeln, als den Antragsteller darüber sachgerecht zu informieren.

Praxishinweis

1. Die Hochrechnung sowie sog. „Entgeltvorausbescheinigungen“ spielen im Rentenverfahren eine große Rolle. Es ist gesetzliche Pflicht der DRV, dem Antragsteller nach Möglichkeit die Altersrente ab dem Moment zukommen zu lassen, ab dem die übrigen rentenrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. So gesehen ergibt auch § 70 Abs. 4 SGB VI Sinn, wonach die im ersten Rentenbescheid vorgenommene Hochrechnung später nicht mehr korrigierbar ist.

2. Das LSG akzeptiert nun einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zu Gunsten des Rentenbewerbers, der im Nachhinein geltend macht, das tatsächlich gezahlte beitragspflichtige Entgelt sei höher gewesen. Die Frage ist, ob dieser sozialrechtliche Herstellungsanspruch nur auf Widerspruch gegen den Rentenbescheid geltend gemacht werden kann oder auch noch später (z.B. weil  zunächst die erforderliche Kenntnis fehlte).

3. Am 01.01.2017 erfolgt die Aufforderung der DRV zur gesonderten Meldung elektronisch (dazu: Scharf, in: Keck/Michaelis, Die Rentenversicherung im SGB, § 194 SGB VI. Anm. 2).

Redaktion beck-aktuell, 25. Januar 2017.