LAG Berlin-Brandenburg: Arbeitgeberregress bei Lohnwucher

SGB II § 11 b; SGB X § 115; BGB §§ 138, 242, 612

1. Ein wucherähnliches Geschäft i.S.v. § 138 Abs. 1 BGB liegt vor, wenn Leistung und Gegenleistung in einem auffälligen Missverhältnis zueinander stehen und weitere sittenwidrige Umstände, z.B. eine verwerfliche Gesinnung des durch den Vertrag objektiv Begünstigten hinzutreten. Ein Lohn, der die übliche Vergütung dieser Arbeitsleistung in der Branche und an dem jeweiligen Ort um mehr als ein Drittel unterschreitet, begründet die Annahme eines auffälligen Missverhältnisses. (Leitsatz des Verfassers)

2. Ansprüche aus §§ 611, 612 Abs. 2 BGB unterliegen im Falle des Lohnwuchers, § 138 BGB, nicht den vertraglichen Ausschlussfristen. (Leitsatz des Gerichts)

LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09.01.2015 - 6 Sa 1343/14, 6 Sa 1953/14, BeckRS 2015, 68308


Anmerkung von

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 12/2015 vom 12.6.2015

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Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Sittenwidrigkeit des von der Beklagten gezahlten Lohnes aus übergegangenem Recht. Die Klägerin hat in der Zeit vom 01.01.2011 bis 20.01.2014 Leistungen nach dem SGB II an die Arbeitnehmerin der Beklagten, Frau S., erbracht. In den Monaten Januar bis einschließlich September 2011 erhielt Frau S. vom klagenden Jobcenter jeweils 264 EUR ohne Berücksichtigung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. In der Folgezeit erhöhten sich die geleisteten Beträge. Frau S. ist ausgebildete Verkäuferin und war auf Grundlage eines mit der Beklagten am 01.04.2003 geschlossenen Arbeitsvertrages für diese als Verkäuferin zur Aushilfe tätig. Vereinbart war im Vertrag eine monatliche Arbeitszeit von 50 Stunden bei einer Vergütung in Höhe von monatlich 100 EUR. Der Vertrag enthielt eine Verfallklausel, wonach alle Ansprüche der Vertragsparteien aus oder im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten schriftlich gegenüber der anderen Vertragspartei geltend gemacht werden. Das soll allerdings nicht gelten bei Haftung wegen Vorsatzes.

Die Beklagte betreibt ein Kurzwarengeschäft, in dem sie überwiegend Handarbeitsartikel vertreibt. In den Jahren 2011 bis 2013 erzielte sie einen Jahresumsatz von ca. 30.000 EUR bei einer täglichen Öffnungszeit von 9 bis 18 Uhr. In Einkommensbescheinigungen für Frau S. hat die Beklagte für verschiedene Monate in den Jahren 2010 und 2011 wöchentliche Arbeitszeiten von 12 bzw. 14 Stunden bestätigt und im Jahre 2013 monatliche Arbeitszeiten von jeweils 50 Stunden. Der Tariflohn im Einzelhandel des Landes Brandenburg betrug 2009 für Verkäuferinnen 2.108 EUR bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden. Mit Schreiben vom Januar 2014 an die Beklagte hat die Klägerin ausgeführt, dass die an Frau S. gezahlte Vergütung nicht dem Tariflohn des Einzelhandels entspreche und deshalb noch eine Gesamtforderung von 20.649 EUR offen sei. Die Klägerin forderte die Beklagte auf, diesen Betrag an Frau S. nachzuzahlen und dies nachzuweisen. Die Beklagte lehnte ab und teilte in einer „Richtigstellung“ mit, dass Frau S. nicht 50 Stunden pro Monat, sondern rund 18 bis 20 Stunden pro Monat gearbeitet habe, mit einer Vergütung von 100 EUR. Die Klägerin verlangt von der Beklagten einen Betrag von 11.466 EUR nebst Zinsen, da der Stundenlohn von 2 EUR sittenwidrig sei und die Beklagte verpflichtet gewesen sei, den Tariflohn zu zahlen. Der Lohnanspruch von Frau S. sei gemäß § 115 SGB X auf die Klägerin übergegangen. Das ArbG weist die Klage ab, da der Anspruch auf Lohnnachzahlung allein schon an der vereinbarten Ausschlussfrist scheitere. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin.

Entscheidung

Das LAG gibt der Berufung statt, und verurteilt die Beklagte zur Zahlung eines Betrages von 5.836,92 EUR nebst Zinsen. Auszugehen sei von einer monatlichen Arbeitszeit von 50 Stunden. Der vereinbarte und gezahlte Lohn steht bei einer üblicherweise im Wirtschaftsgebiet gezahlten Vergütung von 6 EUR/Stunde in einem auffälligen Missverhältnis zu der Arbeitsleistung von Frau S. als Gegenleistung.

Auszugehen ist von etwa 2/3 des Tariflohnes als dem üblichen Lohn. Die Behauptung einer Stundenreduzierung steht im Widerspruch zu den von der Beklagten selbst gegenüber der Klägerin erteilten Auskünften hinsichtlich der Arbeitszeiterfassung. Liegt somit der objektive Tatbestand des Lohnwuchers vor, bedarf es darüber hinaus auf der subjektiven Seite eines weiteren sittenwidrigen Elements. Auch dies bejaht das LAG. Die verwerfliche Gesinnung der Beklagten wird nicht durch deren Behauptung widerlegt, Frau S. hätte die Arbeitsleistung nicht primär als Erbringung einer Leistung im Beschäftigungsverhältnis, sondern als Ausübung ihres Hobbies verstanden. Die von der Leistungsempfängerin erbrachten Arbeitsleistungen sind Tätigkeiten, die regelmäßig in einem Handelsgeschäft anfallen. Verstößt damit die Entgeltabrede gegen § 138 BGB und ist sie nichtig, schuldet die Beklagte als Arbeitgeberin gem. § 612 BGB die übliche Vergütung.

Der Anspruch ist nicht verfallen, da die Ausschlussklausel Ansprüche, die in Folge einer unerlaubten Handlung bestehen, nicht erfasst. Der Abschluss eines Wuchergeschäfts nach § 138 BGB ist eine unerlaubte Handlung. Vorsätzliches Handeln ist zu bejahen. Im Übrigen wäre der Beklagten auch die Berufung auf die Verfallsklausel aus Treu und Glauben, § 242 BGB, verwehrt.

Unter Berücksichtigung der üblichen Vergütung von 6 EUR/Stunde gelangt das Gericht zu einer Differenz von 200 EUR/Monat, von der allerdings 40 EUR als Freibetrag gem. § 11 b Abs. 3 Nr. 1 SGB II abzusetzen sind.

Praxishinweis

1. Unter der Geltung des Mindestlohngesetzes ab 01.01.2015 wird das Missverhältnis noch weitaus krasser: Ab 01.01.2015 hätte die Beklagte pro Arbeitsstunde 8,50 EUR geschuldet, es sei denn, sie hätte sich auf einen Tarifvertrag berufen können, der für einen vorübergehenden Zeitraum Unterschreitungen zulässt. (gem. der bis zum 31.12.2017 geltenden Übergangsregelung des § 24 MiLoG, vgl. dazu die Übersicht bei Lakies, Mindestlohngesetz, 2. Aufl. 2015, § 24 Rn. 4 und 11).

2. Wesentlich komplizierter verhält es sich mit der Ausnahmeregelung gem. § 22 MiLoG. Danach fallen Praktikanten und Jugendliche nicht unter das Mindestlohngesetz: Bei der Prüfung des „Lohnwuchers“ stellt sich nun die Frage, welche für diesen Personenkreis die „übliche Vergütung“ ist. Bedenkt man, dass aus europarechtlicher Sicht und auch aus Sicht des GG Zweifel daran geäußert werden, ob die Ausnahmevorschrift des § 22 MiLoG, was Jugendliche anlangt, dem Anspruch auf Gleichbehandlung entspricht (vgl. dazu Mückl/Pötters/Krause, Mindestlohngesetz in der betrieblichen Praxis, 2015, Rn. 203 f.), könnte sich der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 EUR pro Arbeitsstunde jedenfalls mittelbar auf die Prüfung des Lohnwuchers bei Praktikanten und Jugendlichen derart auswirken, dass man auch dort etwa 2/3 des gesetzlichen Mindestlohns als angemessen einfordert.

3. Der vom LAG entschiedene Sachverhalt ist keineswegs außergewöhnlich oder untypisch: Der Umsatz des Einzelhandelsgeschäfts ist sehr gering und reicht kaum aus, um – nach Abzug der Kosten (insbesondere Miete, Energie, Einkauf, Buchhaltung, Personal) – dem Inhaber einen Gewinn zu vermitteln, der das Existenzminimum übersteigt und dies bei einer täglichen Öffnungszeit von 9 bis 18 Uhr, also 45 Stunden zzgl. 5 Stunden am Samstag. Die Inhaberin dieses Geschäfts war offensichtlich auf eine „Aushilfe“ angewiesen, die ihren Job als Hobby verstand und deswegen bereit war, gegen einen Hungerlohn während der Öffnungszeiten Präsenz zu zeigen.

a) Aus Sich des Betriebs gibt es keine Möglichkeiten, eine monatliche „Vergütung“ von 100 EUR für ein Hobby als Betriebskosten abzusetzen. Also hätte die Ladenbesitzerin die monatliche Arbeitszeit auf 10 bis 12 Stunden verringern müssen, was wahrscheinlich für ihre eigene Entlastung dann eher uninteressant erscheint. Die Angabe von einer Arbeitszeit von 10 Stunden in der Arbeitsbescheinigung an das Jobcenter bei einer tatsächlichen Arbeitszeit von 50 Stunden im Monat ist eine Falschangabe, die nicht nur strafrechtliche Konsequenzen hat, sondern auch einen Schadensersatzanspruch des Jobcenters provoziert und die Leistungsempfängerin, also Frau S., ihrerseits mit dem Risiko von Sanktionen belastet.

b) Das Mindestlohngesetz enthält für leistungsgeminderte Personen keine Ausnahmen: „Low Performer“ fallen aus dem Arbeitsmarkt heraus – will der Arbeitgeber nicht unzumutbare Ungleichbehandlungen im Betrieb dulden. Dem behinderten Menschen nützen auch Instrumente wie die „unterstützte Beschäftigung“ gem. § 38a SGB IX oder der sogenannte „Ein-Euro-Job“ gem. § 16 d SGB II nichts, da es sich hier um spezielle sozialstaatliche Angebote handelt, nicht aber um Ausnahmen vom Mindestlohngesetz in der Realwirtschaft.

c) Den zusätzlichen Freibetrag gem. § 11 b Abs. 3 Nr. 1 SGB II in Höhe von 20 % des 100 EUR übersteigenden Einkommens (hier also 20 % von 200 EUR = 40 EUR) kann Frau S. nun noch von dem Geschäft einfordern. Die Geschäftsinhaberin kann sich Frau S. gegenüber auch nicht auf die Ausschlussklausel berufen – es sei denn, es ist nun Verjährung eingetreten oder man kann aus dem übrigen Verhalten entnehmen, dass Frau S. die Entgeltzahlung als endgültig und vertragsgemäß akzeptiert hat. Ob allein der Antrag auf Aufstocker-Grundsicherung gem. SGB II schon ausreicht, um zu begründen, dass Frau S. das Entgelt in dieser Höhe akzeptiert hat, wäre gesondert zu prüfen.

4. Das LAG Mecklenburg-Vorpommern hatte mit Urteil vom 17.04.2012 (FD-SozVR 2012, 335765) einen vergleichbaren Fall zu entscheiden, in dem der beklagte Arbeitgeber geltend machte, die Arbeitnehmerin – um deren Lohn es ging – sei erheblich leistungsgemindert und von ihm gleichsam „vergönnungsweise“ (so die Klausel im Rentenrecht) beschäftigt worden.

5. Zum „Mindestlohn“ bei angestellten Anwälten siehe BAG, FD-ArbR 2015, 369186 m. Anm. Winzer.

LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09.01.2015 - 6 Sa 1343/14

Redaktion beck-aktuell, 17. Juni 2015.