OLG Celle: Volle Verfahrensgebühr trotz zwischenzeitlich erfolgter Berufungsrücknahme erstattungsfähig

ZPO § 91 I 1, II 1

Reicht der Berufungsbeklagte in unverschuldeter Unkenntnis der zwischenzeitlich erfolgten Rechtsmittelrücknahme eine Berufungserwiderung ein, steht ihm gegen den Berufungsführer ein Anspruch auf Erstattung der vollen Verfahrensgebühr nach VV 3200 RVG zu. Der Gegenauffassung des BGH, nach der die durch die Einreichung einer Berufungserwiderung nach Berufungsrücknahme entstandenen Kosten eines Rechtsanwalts auch dann nicht erstattungsfähig sind, wenn der Berufungsbeklagte die Rechtsmittelrücknahme nicht kannte oder kennen musste, ist nicht zu folgen. (von der Schriftleitung bearbeiteter Leitsatz des Gerichts)

OLG Celle, Beschluss vom 11.01.2017 - 2 W 1/17, BeckRS 2017, 100171

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bühl

Aus beck-fachdienst Vergütungs- und Kostenrecht 02/2017 vom 25.01.2017

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Sachverhalt

Der Kläger legte gegen das Urteil des Landgerichts am 24.5.2016 Berufung ein und begründete diese mit am 21.7.2016 beim Oberlandesgericht eingegangenem Schriftsatz. Durch Beschluss vom 2.8.2016 wies das OLG Celle darauf hin, dass beabsichtigt sei, die Berufung des Klägers durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen. Dieser Beschluss wurde der Prozessbevollmächtigten der Beklagten mit der Berufungsbegründung am 9.8.2016 mit einer Erwiderungsfrist von einem Monat zugestellt. Mit vorab per Telefax bei beim OLG Celle am 16.8.2016 eingegangenem Schriftsatz vom selben Tage erklärte der Kläger die Rücknahme der Berufung. Mit Beschluss vom 16.8.2016 legte das OLG Celle dem Kläger die Kosten des Rechtsmittels auf, dieser Beschluss wurde der Bevollmächtigten der Beklagten mit dem Schriftsatz des Klägers vom 16.8.2016 am 22.8.2016 zugestellt. Mit am 22.8.2016 beim OLG eingegangenem Schriftsatz der Beklagten vom 19.8.2016 beantragte die am 21.6.2016 von der Beklagten beauftragte Prozessbevollmächtigte der Beklagten, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

In der Folge beantragte die Beklagte die Festsetzung der ihr im Berufungsverfahren entstandenen Kosten gegen den Kläger und machte dabei ua eine 1,6 Verfahrensgebühr für die Tätigkeit ihrer Prozessbevollmächtigten geltend. Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 3.11.2016 setzte die Rechtspflegerin des LG die von dem Kläger an die Beklagte zu erstattenden Kosten niedriger als beantragt fest und begründete die Entscheidung damit, dass die Beklagte lediglich Erstattung einer 1,1 Verfahrensgebühr nach VV 3201 RVG verlangen könne.

Dagegen wandte sich die Beklagte mit der sofortigen Beschwerde. Das LG half der sofortigen Beschwerde nicht ab und legte die Akten dem OLG Celle zur Entscheidung vor, die Beschwerde hatte in der Sache Erfolg.

Rechtliche Wertung

Entgegen der Auffassung des LG könne im vorliegenden Fall die Notwendigkeit der Stellung eines Sachantrages auf Zurückweisung der Berufung und die damit verbundene Entstehung einer 1,6 Verfahrensgebühr gem. VV 3200 RVG nicht mit dem Argument verneint werden, dass die Handlung in Anbetracht der bereits erfolgten Berufungsrücknahme nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich gewesen sei. Zwar könne sich das LG auf die Rechtsprechung des BGH stützen, wonach nur solche Maßnahmen iSd § 91 I 1 ZPO notwendig seien, die im Zeitpunkt ihrer Vornahme objektiv erforderlich und geeignet zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung erscheinen. Nach dieser Rechtsprechung komme es auf eine – verschuldete oder unverschuldete – Kenntnis des Rechtsmittelbeklagten von der Berufungsrücknahme nicht an, die Notwendigkeit der Maßnahme sei vielmehr rein objektiv vom Standpunkt einer verständigen und wirtschaftlich vernünftigen Partei aus zu beurteilen, wobei grds. auf den Zeitpunkt der Vornahme der kostenverursachenden Handlung abzustellen sei.

Der Senat teile indes die von dem OLG München (BeckRS 2016, 16132) erhobenen Bedenken gegen die vorbezeichnete Rechtsprechung des BGH. Für die Sicht einer verständigen und wirtschaftlich vernünftigen, das Gebot der Kostenschonung beachtenden Partei sei die Kenntnis von dem Fortbestand des Rechtsmittels dafür entscheidend, welche Maßnahmen die Partei für sachdienlich zu halten habe. Es erscheine in der Sache nicht gerechtfertigt, entsprechend der Rechtsprechung des BGH der mit einer Klage oder einem Rechtsmittel überzogenen Partei das volle Kostenrisiko für den Fall aufzuerlegen, dass diese Prozesshandlungen – zu einem von ihr nicht beeinflussbaren Zeitpunkt – zurückgenommen werden. Zu Recht weise das OLG München darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des BGH die mit einem Rechtsmittel überzogene Partei einen Rechtsanwalt beauftragen und die entstandenen Kosten im Falle ihres Obsiegens vom Gegner erstattet verlangen könne, sodass dessen Kosten im Grundsatz auch erstattungsfähig sein müssen. Soweit der BGH die Ansicht vertrete, dass eine bestehende Ungewissheit, ob ein Rechtsmittel eventuell bereits zurückgenommen sei, durch eine (telefonische) Nachfrage bei Gericht rasch und problemlos geklärt werden könne, teile der Senat die vom OLG München hiergegen erhobenen Bedenken. Tatsächlich könne die Geschäftsstelle aus den Akten keine zuverlässige Auskunft über das Vorliegen eines Rücknahmeschriftsatzes treffen, weil sich niemals ausschließen lasse, dass sich ein entsprechender Schriftsatz noch im Geschäftsgang befinde, gerade erst eingehe oder in Kürze eingehen werde. Es erscheine auch nicht zumutbar, der mit einem Rechtsmittel überzogenen Partei bzw. deren Bevollmächtigten es aufzuerlegen, sich jeweils vor Beauftragung eines Rechtsanwaltes bzw. vor Fertigung eines Erwiderungsschriftsatzes bei dem Rechtsmittelführer bzw. dessen Bevollmächtigten zu erkundigen, ob das Rechtsmittel nicht zurückgenommen worden sei. Dies gelte umso mehr, als es der Rechtsmittelführer selbst in der Hand habe, dem Gegner oder dessen Anwalt frühzeitig die Rücknahme der Berufung mitzuteilen.

Praxistipp

Nach Auffassung des BGH sind die durch die Einreichung einer Berufungserwiderung nach Berufungsrücknahme entstandenen Kosten eines Rechtsanwalts auch dann nicht erstattungsfähig, wenn der Berufungsbeklagte die Rechtsmittelrücknahme nicht kannte oder nicht kennen musste (BeckRS 2016, 05436 mit kritischer Anmerkung Mayer FD-RVG 2016, 377257). Nach dem OLG München (BeckRS 2016, 16132 mAnm Mayer FD-RVG 2016, 381533) stellt sich nunmehr mit guten Gründen auch das OLG Celle in der berichteten Entscheidung gegen diese Rechtsprechung des BGH. Das OLG Celle hat die Rechtsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Es bleibt abzuwarten, ob der BGH die Gelegenheit erhält und ergreift, seine die mit einem Rechtsmittel überzogene Partei mit einem nicht gerechtfertigten Kostenrisiko belastende Auffassung zu korrigieren.

Redaktion beck-aktuell, 31. Januar 2017.