EuGH: Widerruf staatlicher Beihilfen für Unternehmen in Schwierigkeiten

VO (EG) Nr. 800/2008 Art. 1 VI Buchst. c, VII Buchst. c

1. Als „Gesamtverfahren“ gelten alle vom nationalen Recht vorgesehenen Verfahren der Unternehmensinsolvenz, unabhängig davon, ob diese Verfahren durch die nationalen Verwaltungsbehörden und Gerichte von Amts wegen eröffnet oder auf Antrag des betroffenen Unternehmens eingeleitet werden.

2. Der Umstand, dass ein Unternehmen die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Gesamtverfahrens nach dem nationalen Recht erfüllt, reicht für die Nichtgewährung einer staatlichen Beihilfe oder – sofern sie bereits gewährt wurde – für die Feststellung aus, dass die Beihilfe gemäß dieser Verordnung nicht hätte gewährt werden dürfen, wenn diese Voraussetzungen bereits zum Zeitpunkt der Zuschussgewährung vorlagen. Dagegen kann ein bereits gewährter Zuschuss nicht allein deshalb widerrufen werden, weil gegen dieses Unternehmen nach der Gewährung des Zuschusses ein Gesamtverfahren eröffnet wurde. (Vom Verfasser gekürzte Leitsätze des Gerichts)

EuGH, Urteil vom 06.07.2017 - C-245/16, BeckRS 2017, 115609 – „Nerea SpA/Regione Marche“

Anmerkung von 
Patrick Ehret, DEA, Rechtsanwalt & Avocat, Frz. Fachanwalt für internationales und EU Recht, Schultze & Braun GmbH Rechtsanwaltsgesellschaft

Aus beck-fachdienst Insolvenzrecht 18/2017 vom 08.09.2017

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Insolvenzrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Insolvenzrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Insolvenzrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

Sachverhalt

Die italienische Region Marken genehmigte im Jahr 2010 staatliche Zuschüsse für bestimmte Aktivitäten kleiner und mittlerer Unternehmen im Rahmen eines operationellen Regionalprogramms (ORP) des europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE). Die Ausschreibungsbedingungen sahen vor, dass sich die Unternehmen „zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht in Schwierigkeiten iSv Art. 1 Abs. 7 der Verordnung Nr. 800/2008 befinden“ dürfen. Ferner hatte sich der Beihilfeempfänger zusätzlich zu verpflichten, für die Beständigkeit des bezuschussten Projekts für mindestens 5 Jahre zu sorgen.

Die Nerea SpA wurde 2011 für eine ihrerseits zugesagte Investition eine Beihilfe genehmigt. Nach Erhalt eines Zuschusses iHv 50 % der Beihilfe und der Umsetzung der Investitionen rechnete die Nerea SpA ihre Ausgaben ab und beantragte zugleich die Auszahlung des Restbetrags der Beihilfe im November 2013. Gut einen Monat später, am 24.12.2013 wurde von der Gesellschaft ein Antrag auf einen präventiven Vergleichsabschluss zur Unternehmensfortführung (concordato preventivo) – ein Insolvenzverfahren gemäß Anhang A der EuInsVO ? beim Gericht in Macerata eingereicht.

Nach Eröffnung des Verfahrens im Oktober 2014 wurde seitens der die Beihilfen verwaltenden Stelle ein Verfahren zum Widerruf der Förderung eingeleitet. Am 11.5.2015 wurde die bewilligte Beihilfe widerrufen. Begründet wurde dies damit, dass die Eröffnung des Verfahrens des präventiven Vergleichsabschlusses den Erhalt der Beihilfe ausschließe. Nerea SpA bestreitet zur Rückzahlung verpflichtet zu sein, da der concordato preventivo erst nach der Beihilfenauszahlung beantragt worden sei.

Das wegen der Überprüfung des Widerrufs angerufene Regionalverwaltungsgericht befasste den europäischen Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung mit zwei Fragen zur Auslegung der Verordnung Nr. 800/2008 zur Erklärung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt (GruppenfreistellungsVO).

Entscheidung

Der Gerichthof stellt zunächst – auf die vom ital. Gericht laut Generalanwalt als „Vorfrage“ bezeichnete Frage hin – klar, dass der Begriff „Gesamtverfahren“ iSd Art. 1 VII VO (EG) Nr. 800/2008 nicht auf Verfahren beschränkt sei, die von Behörden oder Gerichten von Amts wegen eröffnet werden können. Auch vom Schuldner eingeleitete Verfahren seien umfasst. Insoweit sei daran zu erinnern, dass die GruppenfreistellungsVO gem. ihrem Art. 1 VI Buchst. c VO (EG) Nr. 800/2008 nicht für Beihilfen für Unternehmen in Schwierigkeiten gilt. Nach Art. 1 VII VO (EG) Nr. 800/2008 werde ein KMU als Unternehmen in Schwierigkeiten betrachtet, wenn es die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Eröffnung eines Gesamtverfahrens, welches die Insolvenz des Schuldners voraussetzt, erfüllt. Eine Unterscheidung nach Gesamtverfahren je nach Antragsteller existiere gerade nicht.

Die zweite Frage gibt dem Gerichtshof die Gelegenheit auf die bisherige Rechtsprechung (Urt. v. 21.3.2013 – C-129/12, BeckRS 2013, 80631, Rn. 40 – Magdeburger Mühlenwerke) zu verweisen. Danach ist für die Beurteilung der Förderfähigkeit iSd Verordnung (EG) Nr. 800/2008 auf den Bewilligungszeitpunkt der Beihilfe abzustellen. Ferner widerspräche es der zur Verringerung des Verwaltungsaufwandes vereinfachten Definition des Begriffes „Unternehmen in Schwierigkeiten“, wenn konkret zu prüfen wäre, ob sich ein Unternehmen in Schwierigkeiten befindet. Vielmehr ist darauf abzustellen, ob die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Eröffnung eines Gesamtverfahrens, welches die Insolvenz des Schuldners voraussetzt, gegeben sind. Folglich könne auch die Eröffnung eines Gesamtverfahrens nicht per se zum Widerruf der Beilhilfe führen.

Praxishinweis

Die europarechtliche Zulässigkeit staatlicher Beihilfen richtet sich bekanntlich nach Art 107 AEUV. Die Kommission hat in der Verordnung (EG) Nr. 800/2008 – die inzwischen von der Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17.6.2014 abgelöst wurde – bestimmte Gruppen von Beihilfen für mit dem Binnenmarkt für vereinbar erklärt. Darunter fallen ua auch Beilhilfen für KMU, sodass diese ohne ein Genehmigungsverfahren der Kommission vergeben werden können. Beihilfen für Unternehmen in Schwierigkeiten sollten allerdings gerade nicht unter diese Verordnung fallen, da diese Beihilfen anhand der Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten im Einzelfall bewertet werden sollen. Die EuGH-Entscheidung befasst sich mit der Einordnung von Präventivverfahren, die vom Schuldner beantragt werden und ggf. die Insolvenz gerade nicht voraussetzen, und versucht den Rechtsanwendern größtmögliche Rechtsicherheit zu geben. Im Ergebnis ist es richtig, dass Unternehmen, die eine Beihilfe erhalten haben, weiterhin Präventivverfahren zur Fortführung des Unternehmens nutzen können, ohne per se auf dieser Grundlage die Rückforderung befürchten zu müssen. Dieser Ansatz wird von der Nachfolge-Verordnung („Das Unternehmen ist Gegenstand eines Insolvenzverfahrens oder erfüllt die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf Antrag seiner Gläubiger“) aufgenommen und weitergeführt. Dies ist zu begrüssen.

Redaktion beck-aktuell, 12. September 2017.