BFH: Pflegefreibetrag für gesetzlich zum Unterhalt verpflichtete Personen

ErbStG § 13 I Nr. 9; BGB §§ 1589, 1601 ff., 1612, 1618a

Eine aufgrund des Verwandtschaftsverhältnisses bestehende gesetzliche Unterhaltspflicht schließt die Gewährung des Pflegefreibetrags nicht aus. (Leitsatz des Gerichts)

BFH, Urteil vom 10.05.2017 - II R 37/15, BeckRS 2017, 115192

Anmerkung von 
JR Dr. Wolfgang Litzenburger, Notar in Mainz
 
Aus beck-fachdienst Erbrecht 07/2017 vom 13.7.2017

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Sachverhalt

Die Klägerin ist Miterbin ihrer im August 2012 verstorbenen Mutter (M). Zum Nachlass der M gehörten u.a. Bankguthaben i.H.v. 785.543 EUR.

M war im Jahr 2001 pflegebedürftig geworden. Die Klägerin hatte M im Dezember 2001 bis zu deren Tod in ihr Haus aufgenommen und auf eigene Kosten die Pflege der M übernommen. Ab November 2001 hatte die Pflegekasse der M Pflegegeld nach der Pflegestufe III i.H.v. anfangs 664,68 EUR und zuletzt 700 EUR monatlich gewährt.

Das Finanzamt setzte gegen die Klägerin mit Änderungsbescheid vom 10.10.2013 Erbschaftsteuer i.H.v. 4.865 EUR fest. Der Einspruch, mit dem die Klägerin die Berücksichtigung eines Freibetrags gemäß § 13 I Nr. 9 ErbStG i.H.v. 20.000 EUR begehrte, blieb ohne Erfolg.

Das FG Niedersachsen gab der Klage mit der Begründung statt, der Gewährung des Freibetrags stehe nicht entgegen, dass die Klägerin als Tochter der M gemäß § 1601 BGB abstrakt verpflichtet gewesen sei, der M Unterhalt zu gewähren. Denn aufgrund des umfangreichen Vermögens der M sei die Klägerin dieser gegenüber nicht unterhaltsverpflichtet gewesen.

Rechtliche Wertung

Der Senat schließt sich der Auffassung des FG an, dass der Erwerb der Klägerin wegen der von ihr gegenüber M erbrachten Pflegeleistungen i.H.v. 20.000 EUR nach § 13 I Nr. 9 ErbStG steuerfrei ist.

Der Begriff "Pflege gewähren" in § 13 I Nr. 9 ErbStG sei – so der Senat - grundsätzlich weit auszulegen. Pflege i.d.S. sei die regelmäßige und dauerhafte Fürsorge für das körperliche, geistige oder seelische Wohlbefinden einer hilfsbedürftigen Person. Sie setze begrifflich eine wegen Krankheit, Behinderung, Alters oder eines sonstigen Grundes bestehende Hilfsbedürftigkeit des Pflegeempfängers voraus. Dabei sei nicht erforderlich, dass der Erblasser pflegebedürftig i.S.d. § 14  I SGB XI a.F. und einer Pflegestufe nach § 15 I 1 SGB XI a.F. zugeordnet gewesen sei.

Zu den Pflegeleistungen zählt der Senat die Unterstützung und Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege (z.B. Waschen, Duschen, Kämmen), der Ernährung (z.B. Zubereiten und Aufnahme der Nahrung), der Mobilität (z.B. selbständiges Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung) und der hauswirtschaftlichen Versorgung (z.B. Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung). Voraussetzung sei dabei stets, dass die Leistungen regelmäßig und über eine längere Dauer erbracht worden seien, im allgemeinen Verkehr einen Geldwert hätten (BFH, BeckRS 2013, 96462, Rn. 16 bis 21) und unentgeltlich oder gegen unzureichendes Entgelt geleistet worden seien (BFH, BeckRS 1995, 22011512 unter II.2.b).

Zusätzlich müsse die Zuwendung als angemessenes Entgelt für die gewährte Pflege anzusehen sein. Ein angemessenes Entgelt sei die Zuwendung nur, soweit sie dem Betrag entspreche, den der Erblasser durch die Inanspruchnahme der Pflegeleistungen erspart habe (BFH, BeckRS 2013, 96462, Rn. 26).

Nach Auffassung der Finanzverwaltung (Erbschaftsteuer-Richtlinien 2011 R E 13.5 Abs. 1 S. 2) und der h.M. in der Literatur (Meincke, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, 16. Aufl., § 13, Rn. 40; Viskorf in Viskorf/Knobel/Schuck/ Wälzholz, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Bewertungsgesetz, 4. Aufl., § 13 ErbStG, Rn. 104; differenzierend nach konkreter Unterhaltspflicht BFH, BeckRS 1957, 21006194; Jülicher in Troll/Gebel/ Jülicher/Gottschalk, ErbStG, § 13, Rn. 102) scheidet die Gewährung der Steuerbefreiung nach dieser Vorschrift immer dann aus, wenn der Erwerber zu den dem Erblasser unterhaltspflichtigen Personenkreis gehört. Dieser Auffassung tritt der Senat mit dieser Grundsatzentscheidung entgegen und sieht in der Unterhaltspflicht nach den gesetzlichen Bestimmungen kein ausschließendes Tatbestandsmerkmal.

Für eine Beschränkung des Anwendungsbereichs der Steuerbefreiung auf Erwerber, die mit dem Erblasser nicht in gerader Linie verwandt sind, biete der Wortlaut der Vorschrift keine Grundlage. Weder aus der Verpflichtung zur Leistung von Unterhalt gegenüber Verwandten in gerader Linie (§§ 1601 ff. BGB, § 1589 S. 1 BGB) noch aus der Verpflichtung zu Beistand und Rücksicht zwischen Kindern und deren Eltern (§ 1618a BGB) folge eine generelle gesetzliche Verpflichtung zur persönlichen Pflege. Der Verwandtenunterhalt nach §§ 1601 ff. BGB verpflichte Kinder nicht zur Erbringung einer persönlichen Pflegeleistung gegenüber ihren Eltern. Im Rahmen seiner Unterhaltspflicht schulde der Unterhaltspflichtige grundsätzlich nur die Gewährung von Barunterhalt zur Deckung des Lebensbedarfs (§§ 1610 II, 1612 I 1 BGB). Diese weite Auslegung des § 13 I Nr. 9 ErbStG entspreche – so der Senat - dem Sinn und Zweck der Norm, die ein freiwilliges Opfer der pflegenden Person honorieren bzw. Pflegeleistungen außerhalb vertraglicher oder gesetzlicher Bestimmungen begünstigen solle (BFH, BeckRS 1957, 21006194).

Der Abzug des Pflegefreibetrags nach § 13 I Nr. 9 ErbStG erfordere darüber hinaus, dass der Erwerber die Hilfsbedürftigkeit des Erblassers sowie Art, Dauer, Umfang und Wert der tatsächlich erbrachten Pflegeleistungen schlüssig darlege und glaubhaft mache. Im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Steuerbefreiung und die damit verbundenen Nachweisschwierigkeiten seien jedoch keine übersteigerten Anforderungen an die Darlegung und Glaubhaftmachung zu stellen. Vielmehr sei ein großzügiger Maßstab anzulegen (BFH, BeckRS 2013, 96462, Rn. 27 f.).

Praxishinweis

Diese Grundsatzentscheidung, mit der der Senat mit einer nahezu einhellig von Finanzverwaltung und Schrifttum vertretenen Auffassung bricht, ist von größter Bedeutung für die Steuerpraxis, weil die von § 13 I Nr. 9 ErbStG erfassten Pflegeleistungen in den allermeisten Fällen gerade von unterhaltspflichtigen Personen erbracht werden bzw. vor dem Erbfall erbracht wurden. Nach der bis zu dieser Entscheidung vorherrschenden Meinung kam dieser Personenkreis nicht in den Genuss dieser Steuerbefreiungsvorschrift, was diese Vorschrift praktisch bedeutungslos gemacht hat  (Kien-Hümbert in Moench/Weinmann, ErbStG, § 13 ErbStG, Rn. 59, 63; Jochum in Wilms/Jochum, ErbStG, § 13, Rn. 105). Trotzdem hat sich überraschenderweise kaum Widerstand gegen die auch von der Finanzverwaltung in der Erbschaftssteuerrichtlinie 2011 unter RE 13.5 Abs. 1 S. 1 fixierte Rechtsauffassung geregt. Darin heißt es, dass die Steuerbefreiung  „nicht bei Erwerbern in Betracht [kommt], die gesetzlich zur Pflege (z. B. Ehegatten nach § 1353 BGB, Lebenspartner nach § 2 LPartG ) oder zum Unterhalt (z. B. Ehegatten nach § 1360 BGB oder Verwandte in gerader Linie nach § 1601 BGB , Lebenspartner nach § 5 LPartG ) verpflichtet sind.“

Das FG Niedersachsen wollte in seinem vorausgehenden Urteil diesen kategorischen Ausschluss unterhaltsverpflichteter Angehöriger von dieser Steuerbefreiung dadurch vermeiden, dass es nicht auf die abstrakte Unterhaltspflicht, sondern auf die fehlende Unterhaltsbedürftigkeit der Erblasserin wegen des großen vorhandenen Vermögens im konkreten Fall abstellte. Der BFH-Senat ist mit dieser Grundsatzentscheidung darüber hinausgegangen und hat diesen Teil der Erbschaftssteuerrichtlinie 2011 RE 13.5 Abs. 1 S. 2 vollständig verworfen – und das mit guten Gründen.

Allerdings gibt der Wortlaut des § 13 I Nr. 9 ErbStG durchaus Anlass zu Zweifeln an der Geltung auch für unterhaltspflichtige Personen, heißt es dort doch ausdrücklich, dass die Steuerbefreiung nur Personen gewährt werde, die „dem Erblasser unentgeltlich oder gegen unzureichendes Entgelt Pflege oder Unterhalt gewährt haben“. Die herrschende Auffassung in Finanzverwaltung und Schrifttum hat den Begriff der Unentgeltlichkeit einfach mit Rechtsgrundlosigkeit übersetzt und konnte so die unterhaltspflichtigen Personen generell aus dem Anwendungsbereich dieser Norm ausschließen. Doch ist dem Senat Recht zu geben, dass eine solche Auslegung alles andere als zwingend ist. Dagegen spricht auch, dass unter Entgeltlichkeit nach allgemeinem Verständnis etwas völlig anderes zu verstehen ist als die bloße Erfüllung einer gesetzlichen Zahlungspflicht. Auch die alternative Erwähnung von Pflege und Unterhalt macht deutlich, dass eine Einengung des Unterhaltsbegriffs vom Gesetzgeber nicht gewollt war und ist.

Nicht nur Sinn und Zweck der Steuerbefreiungsvorschrift rechtfertigen keinen pauschalen Ausschluss aller dem Erblasser unterhaltspflichtigen Personen von dieser steuerrechtlichen Vergünstigung, sondern auch der als Willkürverbot begriffene Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 I GG. Der Gesetzgeber wollte jede Pflegeleistung gegen unzureichendes Entgelt honorieren, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil infolge der fehlenden oder unzureichenden Vergütung der Nachlass höher ausfällt als bei einer voll entgeltlichen Pflege. Ein Zurücksetzen gerade der dem unterhaltspflichtigen Personen, vor allem von Ehepartnern und Kindern, erscheint deshalb sachlich nicht gerechtfertigt.

Mit Recht geht der Senat davon aus, dass keine Anhaltspunkte gegeben sind, dass der Gesetzgeber Pflegeleistungen von nahen Angehörigen bereits durch die hohen Freibeträge des § 16 I ErbStG abgelten wollte. Das wäre auch nicht sachgerecht, da den allgemeinen Freibetrag auch derjenige erhält, der sich um den Erblasser überhaupt nicht kümmert bzw. gekümmert hat. Die Steuerbefreiung wegen häuslicher Pflege knüpft folgerichtig an tatsächlich gewährte Pflegeleistungen an und gewährt diese nur demjenigen, der sie auch geleistet hat. Bei der letzten Neufassung des § 13 I Nr. 9 ErbStG wird in der Gesetzesbegründung deshalb das Wort „Entgelt“ in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben und lediglich zum Schutze vor einer missbräuchlichen Ausnutzung der Befreiung der Freibetrag auf 20.000 EUR begrenzt (vgl. BT-Drucks. 16/11107, S. 9). Eine solche Regelung, die gerade nahe Angehörige von dieser Steuerbefreiung ausschließt, die doch seit jeher die Hauptlast der häuslichen Pflege tragen, macht aus der Sicht des Gesetzgebers keinen Sinn. Nur die vom Senat befürwortete weite Auslegung der Vorschrift trägt Wortlaut und Funktion der Steuerbefreiung angemessen Rechnung.

Nach dieser höchstrichterlichen Entscheidung wird in es ab sofort in vielen Fällen zur Geltendmachung dieser Steuerbefreiung bei der Erbschaftsteuererklärung kommen. Dies ist nicht nur gesellschaftspolitisch wünschenswert, sondern - wie der Senat mit überzeugenden Argumenten dargelegt hat - auch dogmatisch richtig. Unterhaltspflicht ist i.d.R. Barunterhaltspflicht. Zu persönlichen Diensten ist der Unterhaltspflichtige in aller Regel nicht gezwungen. Erbringt er sie trotzdem, so erscheint es nur recht und billig, in Höhe der ersparten Aufwendungen für die Inanspruchnahme von gewerblichen Pflegdienstleistern eine Steuerbefreiung zu gewähren. Dies dürfte den Anreiz erhöhen, die Pflege selbst in die Hand zu nehmen und damit die Gesellschaft zu entlasten.

Doch nicht nur den Steuerberatern beschert diese Grundsatzentscheidung Arbeit, sondern auch den Notaren bei der Gestaltung von Vermögensübertragungen im Wege vorweggenommener Erbfolgen (Übergabevertrag, Schenkungen unter Auflagen). Auch heute noch wird von den Beteiligten oft die Aufnahme einer Verpflichtung zur persönlichen Pflege durch den Erwerber (Übernehmer) in den Vertrag gewünscht, damit der oder die Veräußerer (Übergeber) solange wie möglich in ihrem Haus oder ihrer Wohnung bleiben können. Jeder Notar muss nach dieser Grundsatzentscheidung aber wissen, dass er mit einer solchen vertraglich übernommenen Pflegepflicht dem Übernehmer die Möglichkeit nimmt, die Steuerbefreiung gemäß § 13 I Nr. 9 ErbStG in Anspruch zu nehmen, wenn er diese Pflegedienstleistungen tatsächlich erbringt. Auch wenn der Notar zu steuerlichen Belehrung insoweit nicht verpflichtet ist, so gehört es doch zur nobile officium, diese Frage mit den Beteiligten vor der Aufnahme einer solchen Klausel zu erörtern. In aller Regel wird dann von der Veräußerer von dieser Pflegepflicht Abstand nehmen, zumal deren gerichtliche Durchsetzung in der Praxis ohnehin so gut wie nie vorkommt.

Allerdings sollte sich niemand darauf verlassen, dass bei vorweggenommenen Erbfolgen die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung gemäß § 13 I Nr. 9 ErbStG nach dieser Grundsatzentscheidung garantiert ist. Auch ohne vertragliche Fixierung könnte in der Vermögensübertragung ein faktisches Entgelt für die später – ohne vertraglichen oder gesetzlichen Rechtsgrund – erbrachten Pflegedienstleistungen gesehen werden. Hält man am Primat des Zivilrechts im Erbschaftsteuerrecht  jedoch fest, so führt eigentlich kein Weg daran vorbei, mangels vertraglicher Verpflichtung die Steuerbefreiung zu gewähren.

Es bleibt insoweit allerdings abzuwarten, wie die Finanzverwaltung auf diese Grundsatzentscheidung für diese Fälle reagieren wird. Schließlich geht es dabei ums liebe Geld!

Redaktion beck-aktuell, 20. Juli 2017.