OLG Nürnberg: Anwachsung unter Schlusserben in einem Ehegattentestament ist wechselbezüglich

BGB §§ 2069, 2094, 2269, 2270

Fällt einer von zwei in einem Ehegattentestament eingesetzten Schlusserben ohne Hinterlassung von Abkömmlingen weg, sind bei Anwendung der Regel des § 2270 II BGB die Wirkungen der Anwachsung (§ 2094 I 1 BGB) von der Wechselbezüglichkeit umfasst. (Leitsatz des Gerichts)

OLG Nürnberg, Beschluss vom 24.04.2017 - 1 W 642/17, BeckRS 2016, 120101

Anmerkung von 
JR Dr. Wolfgang Litzenburger, Notar in Mainz
 
Aus beck-fachdienst Erbrecht 05/2017 vom 26.5.2017

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Sachverhalt

Die Erblasserin war mit F… verheiratet. Dieser hatte zwei leibliche Kinder, den Beteiligten zu 1 und Frau G…, welche mit dem Beteiligten zu 2 verheiratet war.

Der Ehemann der Erblasserin verfasste am 10. September 1991 handschriftlich folgendes Schriftstück:

… Wir, die Eheleute  … setzen uns gegenseitig als Erben ein. Erben des Überlebenden von uns sollen unsere Kinder … zu gleichen Teilen sein.“ Die Erblasserin setzte handschriftlich auf dasselbe Schriftstück folgenden Passus: „…Vorstehendes ist auch mein letzter Wille. …

Der Ehemann der Erblasserin starb 2013.

Am 26.02.2014 errichtete die Erblasserin folgendes notarielles Testament, das u.a. vorsah:

Zu meinen alleinigen und ausschließlichen Erben bestimme ich hiermit meine Stiefkinder, Herrn B… und Frau G… zu gleichen Teilen. Ersatzerbe für Herrn B… ist dessen Ehefrau … Ersatzerbe für Frau G… ist deren Ehemann … Weitere Ersatzerben bestimme ich heute nicht. Eine Vor-und nach Erbfolge ist hierdurch nicht angeordnet.“

Am 04.07.2016 verstarb Frau G… ohne Hinterlassung von Abkömmlingen. Zwischen dem 09. und dem 10.07.2016 verstarb die Erblasserin.

Der Beteiligte zu 1 hat die Erteilung eines Erbscheins beantragt, wonach die Erblasserin von ihm allein beerbt worden sei. Der Erbschein ist erteilt worden. Mit Schriftsatz vom 17.01.2017 hat der Beteiligte zu 2 beantragt, den Erbschein wegen Unrichtigkeit einzuziehen. Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Rechtliche Wertung

Der Senat schließt sich der Ansicht des Amtsgerichts an. Zu Recht sei dem Beteiligten zu 1 ein Erbschein erteilt worden, wonach er die Erblasserin allein beerbt habe.

Da Frau G vor der Erblasserin gestorben sei, sei der Erbteil auf Grund der Auslegungsregel des § 2094 I 1 BGB dem verbleibenden anderen Schlusserben, also dem Beteiligten zu 1, angewachsen. Die  Anwachsung könne als Bestandteil der Erbeinsetzung wechselbezüglichen Charakter haben (vgl. OLG Hamm  BeckRS 2015, 03513; BeckOK-BGB/Litzenburger, Stand 1. November 2016, § 2270 Rn. 4 und § 2094 Rn. 6; Keller, ZEV 2002, 439).

Allerdings – so der Senat weiter – enthalte das gemeinschaftliche Testament keine Anordnungen zur Wechselbezüglichkeit. Doch sei das Amtsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass sich die entsprechende Bindungswirkung jedenfalls aus der Regelung des § 2270 II BGB ergebe, da es sich bei der Erbeinsetzung der Erblasserin und der Einsetzung der Kinder des Ehemannes als Schlusserben um wechselbezügliche Verfügungen gehandelt habe.

Der Senat will die Anwachsungsregel des § 2094 I 1 und zusätzlich die Auslegungsregel des § 2270 II BGB anwenden. Er ist der Auffassung, dass er sich mit der kumulierten Anwendung von zwei Ergänzungs- bzw. Auslegungsregeln nicht in Widerspruch zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 16.01.2002 (BGH, BeckRS 2002, 30232373) setzt. Darin hat der BGH judiziert, dass beim Wegfall eines zum Schlusserben eingesetzten Abkömmlings die aus § 2069 BGB folgende Berufung von Ersatzerben nicht auch noch nach BGB § 2270 II BGB wechselbezügliche Wirkung haben könne (Verbot der Kumulierung von Auslegungsregeln). § 2270 II BGB setze voraus, dass der Erblasser bestimmte Personen als Erben im gemeinschaftlichen Testament eingesetzt habe. Der Wille der Testierenden, bestimmte Verwandte oder nahestehende Personen oder auch die nach der gesetzlichen Erbfolge berufenen Abkömmlinge als Schlusserben einzusetzen, müsse sich zumindest im Wege ergänzender Auslegung aus dem Testament entnehmen lassen, um die Regel des § 2270 II BGB anwenden zu können.

Im Unterschied hierzu – so der Senat weiter - knüpfe die Regel des § 2270 II BGB im Falle der Anwachsung gemäß § 2094 I 1 BGB an die ursprünglich im gemeinschaftlichen Testament getroffene Schlusserbeneinsetzung an und somit an die Einsetzung bestimmter Verwandter als Schlusserben. Ferner behauptet der Senat, die Anwachsung stelle keine Auslegungsregel dar, sondern gestalte unmittelbar den Erbteil des verbliebenen Schlusserben um.

Praxishinweis

Es handelt sich um die erste obergerichtliche Entscheidung zu einem Problem, das vor allem im Rahmen von Erbfolgegestaltungen nach dem Berliner Modell gemäß § 2269 BGB Bedeutung hat. In diesen Verfügungen von Todes wegen wird die Schlusserbeneinsetzung regelmäßig mit einer Pflichtteilssanktionsklausel für den Fall kombiniert, dass einer der eingesetzten Abkömmlinge seinen Pflichtteil fordert. Wird dabei bestimmt, dass die Enterbung für den Schlusserbfall mit der Tatbestandserfüllung eintritt (Bedingungslösung), so fällt der Erbe, der den Pflichtteil beim ersten Erbfall verlangt hat, weg – und sein Anteil wächst den bzw. dem verbleibenden Schlusserben gemäß § 2094 I 1 BGB an. Will der überlebende Ehepartner eine andere Wirkung herbeiführen und enthält die Verfügung keinen Änderungsvorbehalt, so stellt sich die vom Senat des OLG Nürnberg entschiedene Frage nach der Wechselbezüglichkeit bzw. Vertragsmäßigkeit der Anwachsungsbestimmung. Da eigenhändig und ohne fachkundigen Rat verfasste gemeinschaftliche Testamente sich fast nie mit der erbrechtlichen Bindungswirkung befassen, ist dieses Problem von größter praktischer Bedeutung.

Zwar kann nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur die Enterbung keine wechselbezügliche bzw. vertragsmäßige Wirkung entfalten, wohl aber die Anwachsung als Bestandteil der Erbeinsetzung (OLG Hamm,  BeckRS 2015, 03513; Ivo, ZEV 2004, 205). Allerdings hatte der BGH in seiner Grundsatzentscheidung bereits im Jahre 2002 (a.a.O.) die Wechselbezüglichkeit einer Ersatzerbenberufung allein durch die kumulierte Anwendung der Auslegungsregeln in §§ 2069, 2270 II BGB abgelehnt. Die Übertragbarkeit dieser Entscheidung auf andere Auslegungs- und Ergänzungsregeln wird in der Literatur einhellig abgelehnt (Keim, ZEV 2002, 437), und zwar auch für die Anwachsungsregel gemäß § 2094 I 1 BGB. Begründet wird dies damit, dass die Schlusserben im Unterschied zu den Ersatzschlusserben im Fall des § 2069 BGB im Testament ausdrücklich genannt sind, und zu ihnen auch das in § 2270 II BGB vorausgesetzte Näheverhältnis besteht  (Ivo, ZEV 204, 205; vgl. auch DNotI-Report 2012, 192, 193).

Missverständlich ist allerdings die Formulierung des Senats, der Unterschied zwischen § 2069 BGB einerseits und § 2094 BGB andererseits bestehe darin, dass es sich bei § 2069 BGB um eine Auslegungsregel handele, bei § 2094 I 1 BGB jedoch um eine gesetzliche Umgestaltung des Erbteils. Zutreffend ist dagegen, dass es sich bei § 2094 BGB um eine Ergänzungsregel handelt, die allerdings im Unterschied zur Auslegungsregel des § 2069 BGB tatbestandsmäßig voraussetzt, dass der Wille des Erblassers im Wege der erläuternden oder ergänzenden Auslegung festgestellt werden kann, dass er mit der Einsetzung der bezeichneten Erben die gesetzliche Erbfolge vollständig ausschließen will. Mit anderen Worten: Im Rahmen des § 2094 BGB steht zwar der Wille fest, dass er nur die bezeichneten Erben bedenken will, doch fehlt eine Rechtsfolgenregelung für den Wegfall eines der Zuwendungsempfänger. In diesem Sinne hat der Senat Recht, wenn er konstatiert, dass diese Ergänzungsregel nur den unvollständig geäußerten Erblasserwillen um die Rechtsfolge der Anwachsung ergänzt. Im Unterschied dazu, greift die Auslegungsregel des § 2069 BGB nur und erst dann ein, wenn der Erblasserwille überhaupt nicht festgestellt werden kann, wer Ersatzerbe anstelle des weggefallenen Abkömmlings sein soll. Funktion dieser Regelung ist es, den unvollständig gebildeten Erblasserwillen nicht am Fehlen einer Ersatzerbeneinsetzung scheitern zu lassen, sondern aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung diesen Erblasserwillen zu Ende zu denken, ihn um eine Zuwendung an nicht bezeichnete Personen zu ergänzen. Dann aber erscheint es gerechtfertigt, diese Auslegungsregel nicht auch noch zusätzlich mit wechselbezüglicher bzw. vertragsmäßiger Bindungswirkung auszugestalten. Mangels jeder Willensäußerung der Erblasser muss in diesem Fall eine erbrechtliche Bindungswirkung versagt bleiben, so dass der überlebende Beteiligte an die aufgrund § 2069 BGB eingetretene Ersatzerbenberufung jedenfalls nicht gebunden ist. Bei § 2094 I 1 BGB ist die Ausgangslage eine andere, weil zunächst festgestellt werden muss, dass beide Beteiligte mit der Bezeichnung der Erben die gesetzliche Erbfolge ausschließen wollten. Diese Ergänzungsregel enthält also sehr wohl eine Bezeichnung der Zuwendungsempfänger durch die Erblasser, allerdings eine unvollständige. Es liegt also eine „getroffene“ Verfügung vor, an die die Vermutung des § 2270 II BGB anknüpfen kann.

Im Ergebnis ist dem Senat daher zuzustimmen, dass die Anwachsung in einem gemeinschaftlichen Testament oder Erbvertrag wechselbezügliche bzw. vertragsmäßige Wirkung auf Grundlage der Auslegungsregel des § 2270 II BGB entfalten kann. Dies steht nicht in Widerspruch zu der erwähnten Grundsatzentscheidung des BGH aus dem Jahre 2002.

Diese Entscheidung ist Anlass, die Formulierung von Pflichtteilssanktionsklauseln, die die enterbende Wirkung von der Verwirkung des Tatbestands unmittelbar abhängig machen (Bedingungslösung), kritisch zu hinterfragen, ob sie auch eine Bestimmung über die Änderbarkeit enthalten. Eine Formulierung mit einem Änderungsvorbehalt könnte etwa lauten:

„Falls ein Abkömmling nach dem Tod des Erstversterbenden von uns seinen Pflichtteilsanspruch geltend macht, ist dieser einschließlich der Abkömmlinge auch von der Erbfolge nach dem Längstlebenden ausgeschlossen und erhält, soweit er überhaupt pflichtteilsberechtigt ist, auch aus dessen Nachlass nur seinen Pflichtteil. Durch Verfügung von Todes wegen kann der Längstlebende jedoch eine hiervon abweichende Bestimmung treffen.“

Redaktion beck-aktuell, 1. Juni 2017.